Einen Weg gefunden
Deutsche Firmen prägen mit innovativen Industrielösungen das Großprojekt Marmaray.

Als der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan am 29. Oktober 2013, dem 90. Jahrestag der Republikgründung, den ersten Unterwasser-Schienenstrang zwischen Europa und Asien feierlich eröffnete, blieb die kurze Zugfahrt unter dem Bosporus noch der eingeladenen Prominenz vorbehalten. Erst am nächsten Tag testete die Öffentlichkeit die Unterwasserstrecke – und die Istanbuler taten es mit Hingabe. Schon am frühen Morgen drängten sich die Massen am Bahnsteig im asiatischen Stadtteil Üsküdar, als der Zug einfuhr, wurde geklatscht. Doch das Vergnügen währte zunächst nur kurz. Auf halber Strecke blieb der Zug stehen. Was war passiert? Hatte das von dem deutschen Weltkonzern Siemens installierte Betriebsleitsystem etwa versagt?
Doch die Verantwortlichen der türkischen Bahn winkten ab. Die Systeme sind alle in Ordnung, schuld für das Chaos des ersten Tages sei der nicht absehbare Massenansturm gewesen und einige Saboteure, die mutwillig die Notbremse gezogen hätten. Kein Problem für Siemens also.
Tatsächlich klingt bei der zuständigen Siemens-Sprecherin Silke Reh Stolz durch, wenn sie aufzählt, was der Konzern bei dem Bau eines der größten Verkehrsprojekte weltweit alles geleistet hat. Neben dem gesamten Betriebssystem, das die Stellwerke steuert und den Verkehr überwacht, hat Siemens ein funkbasiertes „Zugbeeinflussungssystem“ installiert, mit dem der Zug im Notfall von außen gesteuert, also auch abgebremst werden kann. Obwohl 2013 und 2014 der Tunnel erst einmal nur für den städtischen Nahverkehr genutzt werden wird, hat Siemens bereits die Arbeiten für den ab 2015 beginnenden Fernverkehr abgeschlossen. Dann soll der alte Traum einer imposanten direkten Zugverbindung wahr werden und der zukünftige Fahrgast von Berlin nach Teheran oder weiter bis Peking durchfahren können.
In der öffentlichen Wahrnehmung in der Türkei ist Marmaray, wie das Schienenprojekt zur Verbindung zwischen dem europäischen und asiatischen Teil von Istanbul heißt, vor allem ein türkisch-japanisches Projekt. So war der japanische Premier Shinzō Abe Ehrengast bei den Eröffnungsfeierlichkeiten und nahm gemeinsam mit Erdoğan und dem türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül an der Jungfernfahrt teil. Japanische Ingenieure waren es denn auch, die die Federführung bei der Planung und operativen Durchführung des Baus der Betonröhre auf dem Meeresgrund hatten.
Anders als die meisten Istanbuler glauben, liegt die Bahnstrecke unter dem Wasser nicht in einem Tunnel, der tief unter dem Meer durchgebohrt ist, sondern in einer Betonröhre, die in knapp 60 Metern Tiefe auf dem Grund des Bosporus liegt. Der Grund dafür ist, erklärte Hermann Haass, seinerzeit Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), zu Beginn der Arbeiten an Marmaray, dass bei einem Tunnel das Gefälle zu groß ist, als das ein Zug es bewältigen könnte. „Der Anfahrtsweg in den Tunnel hätte dann etliche Kilometer lang sein müssen“. Hermann Haass war Mitte der 2000er-Jahre als Vertreter der GIZ einer der externen Berater des Marmaray-Projekts. Heute unterhält die GIZ in der Türkei kein Büro mehr, weil das Land angesichts seines Wirtschaftsaufschwunges von der Liste der Entwicklungsländer gestrichen wurde.
Tatsächlich stemmt die Türkei mittlerweile enorme Infrastrukturprojekte aus eigener Kraft, beziehungsweise lässt private Konzerne auf deren Rechnung bauen und garantiert den Firmen anschließend über einen längeren Zeitraum die Einnahmen aus ihren Investments. So ist es bei der dritten Brücke über den Bosporus, die parallel zum Bahntunnel jetzt ebenfalls gebaut wird und so wird es bei dem projektierten dritten Großflughafen für Istanbul sein, mit dessen Bau 2014 begonnen werden soll. Marmaray ist dagegen ein staatliches Projekt, für das die türkische Regierung vor allem bei japanischen Banken Kredite aufgenommen hat. Mit dem Geld wurde dann der Bau der Betonröhre finanziert, für die wiederum japanische Konzerne die Federführung hatten.
Aber auch an diesem Herzstück des Marmaray-Projekts, der 1,7 Kilometer langen Betonröhre auf dem Meeresgrund, hatte eine deutsche Firma einen wichtigen Anteil: der schwäbische Mittelständler Putzmeister war beim Bau der jeweils 135 Meter langen, 15,5 Meter breiten und fast 9 Meter hohen Teilstücke der Betonröhre mit etlichen Spezial-Betonpumpen beteiligt. Diese Tunnelsegmente wurden im Istanbuler Vororthafen Tuzla gebaut und später auf schwimmenden Docks zur Baustelle geschippert und dort dann auf den Meeresgrund abgesenkt. Mit auf LKWs montierten Autobetonpumpen sorgte Putzmeister dafür, dass der Spezialbeton überall auf den Trockendocks eingesetzt werden konnte, wo man ihn brauchte.
Wesentlich für das Gelingen von Marmaray war auch die bayerische Spezialtiefbaufirma Bauer. Um überhaupt U-Bahnhöfe nur wenige Meter vom Bosporus entfernt möglich zu machen, baute sie gigantische Spundwände, die verhindern, dass unterirdische Wassermassen die Bahnhöfe fluten könnten. Allein am Bahnhof in Üsküdar baute Bauer eine bis zu 28 Meter unter den Meeresspiegel reichende, sogenannte Schlitzwand – über eine Fläche von 28 000 Quadratmetern.
Als am Marmaray-Projekt letzte Hand angelegt wurde, war ebenfalls ein deutsches Unternehmen dabei. Die Goldschmidt Thermit Group aus Leipzig, ein weltweit führendes Unternehmen im Bereich Verbindungsschweißen, sorgte mit dafür, dass der Schienenstrang unter dem Wasser sicher verlegt wurde. Thermit lieferte das spezielle Schweißequipment und eine Tochtergesellschaft des Leipziger Unternehmens schickte Mitarbeiter, die türkische Schweißspezialisten zunächst ausbildeten und später bei der Arbeit unterstützten.
In der Öffentlichkeit wurde allerdings vom Engagement deutscher Firmen für Marmaray nicht viel Aufhebens gemacht. Die Zusammenarbeit mit deutschen Unternehmen ist dafür zu selbstverständlich. Immerhin sind im Land 5500 deutsche Firmen aktiv, teils sogar mit eigenen Niederlassungen und Produktionsstandorten am Bosporus.
So wird es auch ein deutsches Unternehmen sein, welches das nächste Tunnelprojekt unter dem Bosporus im wahrsten Sinne des Wortes vorantreiben wird. Herrenknecht, ein Tunnelbauer aus dem Schwarzwald, der sich bislang hauptsächlich unter den Alpen hindurchgefräst hat, wird ab 2015 den Autotunnel Eurasia mit seiner größten Tunnelvortriebsmaschine unter dem Bosporus hindurch bohren. Angesichts der immensen Bautätigkeit in der Türkei wird aber auch das sicher nicht das letzte Großprojekt mit deutscher Beteiligung sein. ▪
Jürgen Gottschlich