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Das globale Klassenzimmer

Individuell, jederzeit und überall verfügbar: Digitale Bildungsangebote eröffnen ganz neue Möglichkeiten und eine Annäherung an ein altes Ideal.

Ralph Müller-Eiselt und Julia Behrens, 28.09.2016

Weltweit haben die Menschen längst für sich entschieden: Digitalisierung eröffnet neue Chancen. Das belegt ihr Konsum- und Kommunikationsverhalten jeden Tag aufs Neue. Entsprechend machen Internet und Big Data auch vor den Bildungssystemen nicht halt. Dabei geht es um weit mehr, als Schulen und ­Universitäten mit Tablets oder Smartboards auszustatten. Die Bildung verändert sich durch die Digita­lisierung so tiefgreifend wie zuvor nur durch den Buchdruck oder die Einführung der allgemeinen Schulpflicht. Digitalisierung im Bildungsalltag heißt: Zugangshürden werden abgebaut, Lerninhalte und Lerntempo werden auf den Einzelnen individuell zugeschnitten, und insgesamt wird es einfacher, sich im großen Bildungsangebot zurechtzufinden.

Wilhelm von Humboldt, der große Bildungsreformer des 19. Jahrhunderts, propagierte „Bildung für alle“ als Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben und schuf das allgemeine Schulwesen. Sein lange unerfülltes Ideal: Wer gut ist, kommt weiter, egal, wo er herkommt. Diesem Ideal kommt die Gesellschaft mit ­digitalen Bildungangeboten Schritt für Schritt näher – bislang allerdings in unterschiedlicher lokaler Ausprägung.

In Uruguay zum Beispiel hat die Regierung an allen öffentlichen Schulen für den Mathematikunterricht eine interaktive Lernsoftware eingeführt. Zu Beginn erfasst diese den individuellen Leistungsstand jedes Schülers und teilt ihm gleichzeitig passende Übungen zu. Je nach Lernfortschritt werden die Lektionen anspruchsvoller, bei Problemen erklärt das System die Rechenfehler. So entstehen ganz persönliche Lernpfade: Die Schüler passen sich nicht mehr zwanghaft dem Lehrbuch an, sondern das Lernprogramm dem Schüler. „Bettermarks“ heißt die Software, die Unter- und Überforderung, Langeweile und Lernstress reduzieren will. Mit ihrer Hilfe gewinnen die Lehrer Zeit fürs Wesentliche. Sie unterrichten Schüler statt Inhalte, können helfen, wo es nötig ist. Nicht zuletzt bei Fragen des sozialen Miteinanders oder persönlichen Problemen.

„Bettermarks“, das Lernprogramm für Mathematik, wurde in Berlin entwickelt und wird 
in Deutschland zurzeit von etwa 400 Schulen eingesetzt. Es könnten mehr Schulen mitmachen, aber offenbar dauert es noch, bis die Erkenntnis reift, dass digitales Lernen keine zusätzliche Belastung sein muss, sondern ein Teil der ­Lösung für viele pädagogische Herausforderungen.

Ein Beispiel: Rund 80 Prozent der Schüler an der ­David-Boody-Schule im New Yorker Stadtteil Brooklyn bekommen täglich ein „free lunch“, ein kosten­loses Mittagessen; häufig kommen die Schüler aus sozial schwachen Familien, oft haben sie einen Migrationshintergrund und benötigen beim Lernen viel Unterstützung. Seit einiger Zeit bekommen sie neben dem „free lunch“ einen persönlich zugeschnittenen Unterricht. „New Classrooms“ heißt das Konzept, das auf digitalisierte Lerneinheiten statt auf Frontalunterricht setzt und jeden einzelnen Schüler bei seinem Wissensniveau abholt. In einem Raum, der sich über ein ganzes Stockwerk erstreckt, lernen etwa neunzig Schüler an wechselnden Stationen: Die einen schauen Videos, die anderen nutzen eine Lernsoftware, andere arbeiten in Gruppen oder sprechen mit dem Lehrer.

Deutsche Erfolgsgeschichten wie das Berliner Start-up Sofatutor, das online mehr als 13 000 Nachhilfe­videos zu allen Schulfächern bereithält, zeigen, was möglich ist. Schulen wie die Oskar-von-Miller-Berufsschule in Kassel setzen auf eine breite digitale Unterstützung und orientieren sich an ähnlichen Ideen wie „New Classrooms“. Mit Erfolg. Das Projekt „Glassrooms“ beispielsweise bietet eine Umgebung, in der virtuell Landmaschinen repariert werden können. In der Berufsbildung wird vor allem mit virtuellen Lernwelten experimentiert. So lernen Auszubildende die notwendigen Handgriffe, ohne dass teure Maschinen notwendig wären. Ähnliche Beispiele kommen aus der Druckindustrie: Auszubildende können hier mittlerweile mithilfe von Tablets virtuell in laufende Druckmaschinen schauen – das wäre ohne Digitalisierung niemals möglich.

Natürlich birgt digitale Bildung auch Risiken: Schüler und Lehrer hinterlassen mit ihrer Arbeit viele und deutliche Spuren im Internet; diese Daten könnten missbraucht werden. Daher muss ein rechtlicher Rahmen für mehr Datensouveränität gesetzt werden und zugleich eine Qualifizierungsoffensive für die Digitalkompetenz von Lehrern und Schülern gestartet werden. Vor allem aber braucht es viel Mut zur Innovation. ▪

Ralph Müller-Eiselt leitet bei der Bertelsmann Stiftung das Projekt „Teilhabe in einer digitalisierten Welt“ und ist Koautor des Buches „Die digitale Bildungsrevolution“. Julia Behrens verantwortet bei der Bertelsmann Stiftung das Projekt „Monitor Digitale Bildung“.