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Gelehrter Blick auf Russland und die Ukraine

Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel ist Friedenspreisträger 2025 – und ein engagierter Streiter gegen Geschichtsklitterung. 

Yelizaveta Landenberger, 16.10.2025
„Archäologe der Moderne“: Karl Schlögel
„Archäologe der Moderne“: Karl Schlögel © picture alliance / SZ Photo

Man kann ihn auf Demonstrationen treffen: Karl Schlögel ist ein Historiker, den es nicht im Gelehrtenzimmer hält. Einer, der für seine Anliegen auch auf die Straße geht und sich gesellschaftlich engagiert. So war der 77 Jahre alte, in Berlin lebende Osteuropahistoriker in den vergangenen Jahren bei zahlreichen Antikriegsprotesten zu sehen, mit einer großen Ukraineflagge um die Schultern. 

Schlögel, der in Berlin lebt und mit der aus Moskau stammenden Publizistin Sonja Margolina verheiratet ist, erhält 2025 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Er nimmt die mit 25.000 Euro dotierte Auszeichnung, die traditionell während der Frankfurter Buchmesse verliehen wird, ​​am 19. Oktober in der Paulskirche entgegen – einem zentralen Ort der deutschen Demokratiegeschichte. 

„Als Wissenschaftler und Flaneur, als Archäologe der Moderne, als Seismograf gesellschaftlicher Veränderungen hat er schon vor dem Fall des Eisernen Vorhangs Städte und Landschaften Mittel- und Osteuropas erkundet“, heißt es in der Begründung der Jury. Der Historiker wird für sein außergewöhnliches Oeuvre geehrt – für seine Leidenschaft, die osteuropäischen Lebenswelten nicht nur akademisch, sondern auch reisend und im Dialog zu erkunden und sie mit seinen Texten einem breiten Publikum zugänglich zu machen. 

Frühe Reisen in die Sowjetunion 

Am 7. März 1948 in einer Bauernfamilie im Allgäu geboren, kam Karl Schlögel auf dem elterlichen Hof früh mit Nachkriegsflüchtlingen in Berührung. Während seiner Schuljahre in einem Benediktinerinternat lernte er Russisch von einem Lehrer, der aus Ostpolen in die amerikanische Besatzungszone geflüchtet war. Bei einer Klassenfahrt 1966 über Budapest, Lwiw, Kyjiw und Charkiw bis nach Moskau gelangte er zum ersten Mal in die Sowjetunion. Zwei Jahre später erlebte der junge Schlögel den „Prager Frühling“ in der Hauptstadt der Tschechoslowakei. Der Versuch, in der Tschechoslowakei einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu etablieren, wurde durch die Truppen des Warschauer Pakts brutal niedergeschlagen. 

Schlögel studierte osteuropäische Geschichte, Philosophie, Soziologie und Slawistik an der Freien Universität Berlin und war zeitweise in der maoistischen KPD aktiv. In seiner Dissertation beschäftigte er sich mit Arbeiterkonflikten in der Sowjetunion. Danach war er zunächst als freiberuflicher Übersetzer, Publizist und Autor tätig, ehe er 1990 auf den neugeschaffenen Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Universität Konstanz berufen wurde. Fünf Jahre später wechselte er an die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, wo er bis zu seiner Emeritierung 2013 lehrte und forschte – zur Kulturgeschichte Osteuropas, zur Geschichte der russischen Emigration und zu Stadtkulturen im mittleren und östlichen Europa, stets auch mit Blick auf die Gegenwart. 

Wandel des eigenen Russlandbilds 

Gerne nimmt Schlögel ungewohnte, aber erhellende Perspektiven ein. In „Der Duft der Imperien. ‚Chanel No. 5‘ und ‚Rotes Moskau‘“ (2020) erzählt er etwa die Geschichte Europas anhand der zwei bekannten Parfüms. Im Oktober 2025 ist Schlögels Buch „Auf der Sandbank der Zeit“ erschienen, in dem er sich mit dem Wandel seines Russlandbilds angesichts des Ukrainekriegs befasst. 

Man traut es sich kaum auszusprechen: Es bedurfte eines Krieges, um die Ukraine auf unsere mentale Landkarte zu bringen.
Karl Schlögel, Friedenspreisträger 2025

In seiner Rede anlässlich der Auszeichnung mit dem Gerda-Henkel-Preis im Herbst 2024 betonte Schlögel, die Annexion der Krim und der Beginn des russischen Krieges im Donbass im Jahr 2014 seien für ihn „der Schock“ gewesen: „Verstehen, dass man noch einmal ganz von vorne beginnen muss: In diesem Fall hieß das: endlich wahrzunehmen und anzuerkennen, dass es ein Land, einen Staat, eine Nation namens Ukraine gab, die in einem russozentrischen, ganz und gar auf die Hauptstadt der ehemaligen Sowjetunion fixierten Blick immer nur als Hinterland, Durchgangsland, Peripherie, Provinz wahrgenommen wurde, ohne eigene Geschichte, Kultur und Sprache. Man traut es sich kaum auszusprechen: Es bedurfte eines Krieges, um die Ukraine auf unsere mentale Landkarte zu bringen, aus dem Abseits ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken.“ Schlögel bereiste die Ukraine und verarbeitete seine Erfahrungen in seiner Sammlung von Porträts ukrainischer Städte („Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen“, 2015). 

Der zweite Schock, das war für ihn die russische Invasion in die gesamte Ukraine im Februar 2022. Schlögel beschloss, „noch einmal auf die Schulbank zurückzugehen, ja: und vor Ort sich umzusehen“, wie er selbstkritisch zugab. 

Engagement für die Ukraine und die russische Zivilgesellschaft 

Der Historiker zeigt sich solidarisch mit all denjenigen in Ost- und Mitteleuropa, die für Freiheit und Menschenrechte einstehen und dabei ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel setzen. Neben der Ukraine engagiert er sich auch für die russische Zivilgesellschaft. 

Der im Mai 2025 erschienene Sammelband „Memorial. Erinnern ist Widerstand“, herausgegeben von Mitgliedern der in Moskau gegründeten Menschenrechtsorganisation, enthält auch einen Beitrag des Osteuropahistorikers. In einer Laudatio auf Memorial hat Schlögel einmal formuliert, dass Verfechter der geschichtlichen Wahrheit es zu tun bekommen „mit den Wächtern vor den Archiven, mit den Zensoren, die sich die ganze Wahrheit nicht zumuten wollen, er bekommt es zu tun mit den Verleumdern, mit dem Hass derer, die die wahrhaftige Darstellung der Wirklichkeit als Gefahr und Bedrohung empfinden“. Karl Schlögel erhebt die Stimme gegen die Verfälscher der Wirklichkeit und setzt sich ein im Ringen um die Wahrheit.