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Europas Supermikroskop

Die Europäische Spallationsquelle (ESS) in Lund wird einzigartige Möglichkeiten für die Forschung bieten – so wie weitere gemeinsam geplante Großanlagen.

Angela Wenzik, 19.03.2015
© dpa/Marcus Führer - Science

In einer technologisch hochentwickelten Gesellschaft ist Forschung ein wichtiger Baustein der Zukunftsvorsorge. Doch je mehr wir über die Welt wissen, umso aufwendiger wird es, immer wieder neue Erkenntnisse zu gewinnen. Damit Wissenschaftler herausfinden können, wie sich etwa das Universum gebildet hat oder wie atomare Zusammenhänge die Eigenschaften von Materialien bestimmen, benötigen sie oft große und komplexe Forschungsinfrastrukturen wie Teleskope oder Teilchenbeschleuniger.

Solche Anlagen zu bauen kann Milliarden Euro kosten und Hunderte Spezialisten über Jahre beschäftigen. Doch der Aufwand lohnt sich in mehrfacher Hinsicht, denn er ermöglicht nicht nur wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn und neue Forschungsfelder, sondern schafft auch attraktive Arbeitsplätze und führt regelmäßig zu technischen Innovationen. So verdanken wir das Cerankochfeld dem Bedarf der Astrophysik an größeren Teleskopspiegeln; Wissenschaftler der Europäischen Organisation für Kernforschung CERN trugen mit ihrem Streben nach ­verbesserten Kommunikationsmöglichkeiten entscheidend zur Entstehung des Internets bei.

Einzelne Länder sind sowohl finanziell als auch personell nur schwer in der Lage, solche Großgeräte alleine zu bauen und zu betreiben. Um die Mittel effizient einzusetzen und Forschungsinfrastrukturen langfristig zu planen, haben sowohl Deutschland als auch die Europäische Union eigene Strukturen geschaffen, etwa die nationale „Roadmap“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung oder das Europäische Stra­tegieforum für Forschungsinfrastrukturen (ESFRI). Zu den Projekten in Deutschland, die im Wettbewerb untereinander erfolgreich abgeschnitten haben, gehören etwa die Facility for Antiproton and Ion Research (FAIR), die seit 2011 in der Nähe von Darmstadt gebaut wird, oder der European X-Ray Free-Electron Laser (XFEL), der seit 2009 in Hamburg entsteht.

FAIR ist eine Beschleuniger­anlage, die unter anderem Ionenstrahlen von bisher unerreichter Intensität erzeugen soll. Ab 2018 können dort rund 3000 Forscher wichtigen Fragen etwa nach der Entwicklung des Universums oder dem Aufbau von Materie nachgehen. XFEL soll ultrakurze Laserlichtblitze im Röntgenbereich erzeugen – 27 000-mal in der Sekunde und mit einer Leuchtstärke, die milliardenfach höher ist als die der besten Röntgenstrahlungsquellen herkömmlicher Art. Das intensive Licht können Forscher ab 2017 nutzen, um beispielsweise atomare Details von Zellen zu entschlüsseln. Der XFEL ist eng verbunden mit dem Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY) in der Helmholtz-Gemeinschaft, einem der führenden Beschleunigerzentren zur Erforschung der Materie. Bei DESY wurde die Idee der Röntgenlaseranlage auf den Weg gebracht.

Neue Möglichkeiten für die Untersuchung von Materialien soll auch ein großes Infrastrukturprojekt in Schweden bieten: Die Europäische Spallationsquelle (ESS) in Lund wird die weltweit leistungsstärkste Neutronenquelle sein. Neutronen sind die ungeladenen Bausteine von Atomkernen. Sie verraten Forschern, wo Atome sind und wie sie sich bewegen. Damit dienen sie der Wissenschaft als eine Art Supermikroskop und ermöglichen einzigartige Einblicke in die Materie. Durch ihre elektrische Neutralität können Neutronen tief in Proben eindringen, ohne sie zu zerstören. Zudem besitzen sie ein magnetisches Moment, das es ihnen ermöglicht, die magnetische Ordnung in einem Material zu erkennen, ähnlich, wie eine Kompassnadel das Erdmagnetfeld misst.

Die ESS ist ein europäisches Gemeinschaftsprojekt und wird von 17 Ländern getragen. Als Baukosten wurden rund 1,84 Milliarden Euro veranschlagt, von denen Schweden mit 35 Prozent den größten Anteil übernimmt. Deutschland trägt 202,5 Millionen Euro der  Baukosten und einen jährlichen Anteil von 15 Millionen Euro an den Betriebskosten. Leistungen in Form von Instrumenten oder Personal machen einen großen Teil der deutschen Beiträge aus. Neben dem Forschungszentrum Jülich, das die deutschen Beiträge koordiniert, beteiligen sich das Helmholtz-Zentrum Geesthacht und die Technische Universität München. Jede Einrichtung bringt ihre besonderen Kompetenzen ein, damit das Supermikroskop wie geplant 2023 in Betrieb gehen kann.

Die ESS soll in der Spitze etwa 30-mal so viele Neutronen erzeugen wie heutige Anlagen, und dies klimaneutral. Neutronen kommen in der Natur nicht in freiem Zustand vor. Sie aus Atomkernen zu lösen ist auf zwei Wegen möglich: durch Kernspaltung in Forschungsreaktoren oder mit der moderneren Methode der Spallation. Spallation bedeutet „absplittern“ – mit den Neutronen in der ESS geschieht genau das: Ein Beschleuniger bringt Salven von Protonen nahezu auf Lichtgeschwindigkeit und lenkt sie auf die Atomkerne einer rotierenden, heliumgekühlten Zielvorrichtung aus elf Tonnen Wolfram. Der Aufprall löst einige Neutronen direkt heraus und lädt die Atomkerne des Schwermetalls energetisch auf, sodass pro Kern 20 bis 30 Neutronen freigesetzt werden.

Die freigesetzten Neutronen sind mit einer Geschwindigkeit von 20 000 Kilometern pro Sekunde viel zu schnell und energiereich für Experimente. Deshalb bremsen Tanks mit Wasser oder flüssigem Wasserstoff sie auf eine optimale Geschwindigkeit ab. Lange, luftleere Röhren, die Neutronenleiter, führen sie dann zu den Experimentierstationen. An den Atomkernen der Proben „prallen“ die Neutronen ab und können dabei ihre Richtung und Geschwindigkeit ändern. Die Art dieser Streuung lässt sich mit Detektoren messen und gibt Auskünfte über die Anordnung und Bewegung der Atome  und Moleküle in der Probe.

Pro Jahr werden 2000 bis 3000 Wissenschaftler von Universitäten, Forschungseinrichtungen und aus der Industrie die ESS für ihre Arbeit nutzen. In Kombination mit neuen Instrumenten soll sie ihnen etwa ermöglichen, Materialien für Wasserstoffspeicher während der Reaktion mit Wasserstoff zu beobachten. Solche Materialien werden zum Beispiel dringend benötigt, um erneuerbare Energien zu speichern und zu transportieren – eine zentrale Herausforderung der Zukunft. ▪

ANGELA WENZIK ist Wissenschafts­journalistin am Forschungszentrum Jülich.