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Lust am Eintauchen

Das „Wissenschaftsjahr Meere und Ozeane“ lenkt den Blick auf eine außergewöhnliche Forscherpersönlichkeit: Antje Boetius erkundet per Schiff neue Welten.

Tim Schröder, 29.09.2016

Wenn man all die Expeditionen und Ausfahrten zusammenzählt, die sie schon gemacht hat, dann ist Antje Boetius mehrere Jahre mit Schiffen unterwegs gewesen. Sie ist schon oft mit dem Forschungseisbrecher Polarstern durch das Packeis der Arktis gefahren und hat im Mittelmeer Schlammvulkane erkundet. Sie war im Schwarzen Meer und weit draußen im Pazifik. Dutzende Male ist sie mit Tauch­booten in das ferne Dunkel hinabgeglitten. Im Licht der Scheinwerfer hat sie bleiche Tiefseefische, bunte Seegurken, bizarre Riesenwürmer und filigrane Schlangensterne gesehen. Antje Boetius ist Meeresbiologin. Das Leitthema ihrer Forschung ist die Rolle des Meeresbodens und seiner Bewohner für das Leben im Meer und den ganzen Globus. Sie hat vor allem die Mikroorganismen der Tiefsee im Blick: Die sind zwar winzig, beeinflussen mit ihrem Stoffwechsel aber sogar das Klima der Erde.

„Entdeckungsforschung“ nennt Antje Boetius das, was sie tut. Sie will die Vielfalt von Ökosystemen und die Verteilung von Lebewesen in unbekannten Regionen verstehen. Eine Forscherin im Elfenbeinturm ist sie nicht. Sie leitet die Brückengruppe „Tiefsee-Ökologie und -Technologie“ zwischen dem Max-Planck-Institut für Marine Mikro­biologie in Bremen und dem Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Auch ist sie Professorin für Geomikrobiologie an der Uni­versität Bremen und Vizedirektorin des Exzellenz­clusters „The Oceans in the Earth System“ des Bremer Zentrums für Marine Umweltwissenschaften (MARUM).

Dass sie Meeresforscherin werden wollte, wusste sie schon sehr früh. Die Ferien verbrachte ihre Familie oft am Meer. Als sie zwölf war, bekam sie von ihrem Vater eine kleine Naturforscherausrüstung: eine Wettersta­tion, ein Binokular, eine Stereolupe und eine kleine Zentrifuge. Sie wollte in Hamburg studieren, wo es viele Schiffe gibt und das Meer zum Greifen nah ist. Sie wollte das Meer erleben, als Forscherin.

In der Fachwelt wurde Antje Boetius durch mehrere Publikationen bekannt. Die erste große Veröffentlichung im Magazin „Nature“ legte sie kurz nach der Jahrtausendwende vor. Damals waren gerade Methanvorkommen im Meer ein großes Thema. Methanhydrat ist eine feste, eisähnliche Verbindung zwischen Meerwasser und Methan, die sich in großer Tiefe bei niedrigen Temperaturen bildet. Die Substanz ist interessant, weil sie als neue Energiequelle erschlossen werden könnte. Zum anderen fürchtet man, dass das Hydrat durch die Erderwärmung auftauen könnte. Und dass das Methan, ein potentes Treib­hausgas, aus der Tiefe des Meeres in die Atmosphäre steigt. Für Antje Boetius waren die Methanhydrate spannend, weil sie dicht bevölkert sind, mit seltsamen Würmern, Muscheln und vielen Mikroorganismen. Wovon die Tiere leben, war damals rätselhaft, weil keines bekannt war, das Methan direkt nutzt.

Antje Boetius ist neugierig. „Ich wechsle etwa alle fünf Jahre meinen Schwerpunkt“, sagt sie. Und diese Eigenschaft war ihr auch damals sehr von Nutzen. Sie hatte sich gerade in neue Techniken zur Erforschung von Bakterien eingearbeitet. Zusammen mit einer Kollegin untersuchte sie die Bakterien aus den Methanhydraten genauer – und landete einen Treffer: Es sind zwei verschiedene Gruppen von Mikroorganismen, die in Symbiose das Methan in energiereiche Verbindungen umwandeln und damit indirekt Nahrung für die Tiere bereitstellen. Die Grundlage des Lebens an den Methanhydraten. Diese Nachricht war in der Fachwelt eine Sensation.

Antje Boetius bohrt nach und engagiert sich. „Ich habe einfach immer Lust auf neue Aufgaben“, sagt sie. „Man muss dem Zufall eine Chance geben, einen zu finden.“ Das war schon in ihrem Studium so. Nach dem Abitur reiste sie nach Hamburg, um bei dem bekannten Tiefseeforscher Hjalmar Thiel nachzufragen, wie sie Meeresforscherin werden könne. Der bremste ihre Erwartungen zunächst und riet ihr, nach dem Vordiplom wieder anzuklopfen. Das tat sie. Sie besuchte alle Meeresbiologie-Vorlesungen, machte eine erste Forschungsfahrt mit. Und irgendwann fragte Thiel, ob sie nicht Lust hätte, für ein Jahr in die USA zu gehen. Am Scripps-Institut für Ozeanografie sei ein Job frei. Antje Boetius dachte nicht lange nach und packte die Koffer für die Reise in die USA. Sie belegte damals neben dem Job so viele Praktika und Kurse, dass ihr die Zeit am Scripps in Hamburg komplett als Hauptstudium angerechnet wurde.

Eigeninitiative verlangt sie heute auch von ihren mehr als 60 Mitarbeitern. Inzwischen koordiniert sie als Fahrtleiterin viele Schiffsexpeditionen. Von ihrem Vorbild Hjalmar Thiel und dessen Kollegen hat sie gelernt, dass man an Bord hart arbeiten muss, damit alle Einsätze und Probennahmen in der kurzen Zeit klappen. „Pausen zum Feiern und Tanzen finden sich trotzdem“ – dafür hat sie neben Gummistiefeln auch immer Pumps an Bord. Wenn sie erzählt, spürt man, wie sehr sie von ihrer Arbeit begeistert ist. Und diese Begeisterung gibt sie gern weiter. Sie beantwortet alle Anfragen – ganz gleich, ob diese für Fernsehen, Radio, Podcasts oder Zeitungsartikel sind. Und besonders gern beschäftigt sie sich mit Kindern, die zum Beispiel fragen, wie sie Meeresforscher werden können und wie viel Geld man damit verdient. Die Kinderbriefe sammelt sie in einem Aktenordner. Sie liebt die Gespräche, weil die Kinder sie an ihre eigenen Anfänge als Wissenschaftlerin erinnern und „weil diese Grundneugier auf alles in der Welt doch so entscheidend ist“.

Seit 2015 ist sie auf der großen Bühne für Wissenschaftskommunikation zuständig – als Leiterin des Lenkungsausschusses von „Wissenschaft im Dialog“, einer Initiative der deutschen Forschungsorganisationen, die sich damit befasst, Wissenschaft in die Öffentlichkeit zu tragen. Besonders im „Wissenschaftsjahr 2016*17 – Meere und Ozeane“, das das Bundesministerium für Bildung und Forschung und Wissenschaft im Dialog gemeinsam ausrichten. „Es wird noch viel zu wenig darüber gesprochen, dass die Ozeane den größten Teil des Planeten Erde einnehmen und dass sie so wichtig für unser Leben auf der Erde sind“, sagt Antje Boetius. Für sie steht fest: „Wir müssen auf allen Ebenen üben, unsere Forschung zu erklären.“ An der Arbeit bei Wissenschaft im Dialog reizt sie vor allem, dass sie mit den Wissenschaftskommunikatoren aller deutschen Forschungseinrichtungen zusammenkommen kann, um zu überlegen, wie man die Menschen noch besser für Wissenschaft begeistert. Dabei geht sie selbst mit bestem Beispiel voran. Im Internet findet man et­liche Videos, in denen sie ihre Arbeit und die Erforschung der Tiefsee packend erklärt. Insofern ist gute Wissenschaftskommunikation eigentlich ganz einfach: hinausgehen und Forschungsgeschichten erzählen, so, wie Antje Boetius es macht. ▪