Zum Hauptinhalt springen

„Widersprüche verstehen“

Dr. Franz Waldenberger ist neuer Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien (DIJ) in Tokyo. Er will seinen Forschungsschwerpunkt auf „Risiken“ legen. Wie ist das zu verstehen?

Martin Orth, 19.03.2015
© dpa/Chad Ehlers - Forschung
Herr Dr. Waldenberger, Sie sind seit Oktober 2014 Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien (DIJ), dessen Gegenstand die Untersuchung des modernen Japan ist. Welches Bild bietet sich Ihnen derzeit von Japan?
Japan ist heute mehr denn je ein Land der Gegensätze, vielleicht auch der Widersprüche. Nehmen Sie zum Beispiel die Verbindung von Tradition und Moderne, die sich Ihnen im Stadtbild von Tokyo bietet, wo 2012 in unmittelbarer Nachbarschaft zum Tempelviertel Asakusa der 634 Meter hohe Skytree als neue Touristenattraktion eröffnet wurde. Oder die Station Meiji Jingû-mae, von wo aus Sie, je nachdem welche Richtung Sie einschlagen, in kürzester Entfernung entweder den Meijischrein, die Luxusmeile Omotesandô oder die Jugendszene von Harajuku erreichen. Solche „Unvereinbarkeiten“ finden sich auch in der Wirtschaft. Den üblichen Konjunkturindikatoren zufolge befindet sich das Land am Rande einer Rezession. Das Beschäftigungsniveau und die Kapazitätsauslastung der Unternehmen sprechen dagegen eher für einen Boom. Ebenso verwunderlich ist, dass Japan mehr als Deutschland in Forschung und Entwicklung investiert, über mehr sehr gut ausgebildete Arbeitskräfte verfügt und trotzdem eine deutlich niedrigere Arbeitsproduktivität ausweist. Aber Japan ist nicht nur wegen dieser Gegensätze nach wie vor ein faszinierendes Land. Ein Grund ist wohl diese besondere Verbindung von „sophistication“ mit „understatement“, der man hier begegnet. Japan bietet seine Qualitäten nicht feil. Das Land will entdeckt werden. Für mich gibt es immer noch und immer wieder viel zu entdecken. 
 
Sie haben angekündigt, Ihren Forschungsschwerpunkt auf „Risiken“ zu legen. Was muss man sich darunter vorstellen?
Für einen Ökonomen implizieren Risiken immer auch Chancen. „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“. Da der Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch aber meist nur negativ belegt ist, sprechen wir nun von „Risiken und Chancen“. Es geht dabei um die Herausforderungen, denen sich Japan aktuell gegenübersieht. Dazu zählen der demographische Wandel, einschließlich des nun einsetzenden dramatischen Rückgangs der Bevölkerung, die erzwungene, wenn auch politisch in dieser Radikalität nicht gewollte Energiewende nach dem landesweiten Abschalten der Atomkraftwerke, der Klimawandel, die Rekordstaatsverschuldung, die zunehmende Kluft zwischen arm und reich, zwischen den Regionen und den Ballungszentren und nicht zuletzt die politischen Spannungen mit Nachbarn wie China und Korea bei gleichzeitig zunehmender wirtschaftlicher Integration. Die Herausforderungen bergen Chancen und Risiken. Uns interessiert, wie diese wahrgenommen und bewertet werden, welche Handlungen daraus resultieren sowie die hierbei relevanten Kommunikationskontexte und Governancestrukturen. Die Untersuchungseinheit können Individuen, Organisationen oder Systeme, aber auch regionale beziehungsweise lokale Gebietskörperschaften sein. 
 
Inwieweit sind diese Herausforderungen japanbehaftet beziehungsweise allgemeiner Natur? Oder: Gibt es Parallelen zu Deutschland?
Viele der Herausforderungen gelten auch für Deutschland. Allerdings stellt sich die demographische Entwicklung in Japan durchaus dramatischer dar. Deflation und das Ausmaß der Staatsverschuldung sind ebenfalls so nicht in Deutschland gegeben. Dennoch lohnt sich der Vergleich immer. Angesichts unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Ausgangsbedingungen sind Lösungsansätze zwar selten übertragbar, aber allein sich dieser unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und ihrer Bedeutung klar zu werden, ist ein nicht zu unterschätzender Erkenntnisgewinn.
 
Zu den Gegenständen der Untersuchung zählt das DIJ auch die deutsch-japanischen Beziehungen und die Nachwuchsförderung. Wie ist es darum bestellt?
Die deutsch-japanischen Beziehungen sind in einer zunehmend globalisierten Welt in multilateralen und regionalen Kontexten zu sehen. Japan und Deutschland teilen gemeinsame Werte, sie stehen vor gemeinsamen Herausforderungen, aber sie sind dabei nicht allein. Sie arbeiten in zahlreichen internationalen Foren und Gremien zusammen. Ihre Unternehmen sind Konkurrenten, aber auch vielfach Kooperationspartner nicht nur in den jeweiligen Heimatmärkten, sondern auch auf Drittmärkten. Der häufige Regierungswechsel in Japan hat in den letzten Jahren den Austausch auf höchster Ebene behindert. Mit dem Besuch von Premierminister Abe in Deutschland im letzten Jahr und dem Gegenbesuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel kommt er wieder in Gang. Was das Interesse der Deutschen und Japaner am jeweils anderen Land betrifft, so gibt es hier nach wie vor ein deutliches Ungleichgewicht, allerdings inzwischen in umgekehrter Richtung. Waren früher Japaner mehr an deutscher Kultur und Wissenschaft interessiert, so sind es heute die Deutschen, die sich für japanische Popkultur, Küche, Design, Kunsthandwerk oder Kampfsport interessieren. Das zeigt sich nicht zuletzt im Sprachunterricht. Immer weniger japanische Studenten lernen Deutsch, während Japanischkurse in Deutschland seit vielen Jahren wachsende Teilnehmerzahlen verzeichnen. Mit unserer Nachwuchsförderung unterstützen wir junge Forscherinnen und Forscher in den auf Japan ausgerichteten Sozial- und Geisteswissenschaften. Konkret sind das die promovierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hier am DIJ, die sich in den drei bis fünf Jahren, die sie bei uns sind, für die nächste Karrierestufe qualifizieren sollen. Doktoranden ermöglichen wir im Rahmen unseres Stipendienprogramms die für ihr Dissertationsprojekt notwendigen Recherchen vor Ort in Japan durchführen. 
 
Und wie könnte man das Interesse der Japaner an Deutschland wieder wecken?
Eine wichtige Frage wäre hier, wie man die japanische Jugend wieder mehr für Deutschland begeistern kann. Ein nicht zu unterschätzender, wenn auch wenig steuerbarer Faktor sind sportliche Erfolge. Japanische Fußballer in der Bundesliga beziehungsweise Deutschlands Gewinn der Weltmeisterschaft in Brasilien erzeugen sozusagen als Nebenprodukt eine erhebliche PR-Wirkung. Aktuell sieht man in japanischen Wirtschaftskreisen ein größeres Interesse an Deutschland. Dies zeigt sich in der Bewunderung für die Stärke der deutschen Wirtschaft, insbesondere des Mittelstands. Auch das von deutscher Seite propagierte Konzept Industrie 4.0, das Internet der Dinge, zieht Aufmerksamkeit auf sich. Ähnliches gilt für die Energiewende und Deutschlands vergleichsweise solide Staatsfinanzen. Im Energiebereich findet deutlich mehr Austausch statt. Es gibt also Bewegung. Wie kann man mehr erreichen? Die einfache Antwort wäre mehr Jugendaustausch, mehr Studenten- und Wissenschaftleraustausch, mehr Delegationsreisen, mehr Berichterstattung in den Medien. Aber dafür muss es Anlässe und Interesse geben. Diese zu finden beziehungsweise zu wecken, dazu können und wollen wir als DIJ im bescheidenen Rahmen beitragen. ▪