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„Hier hat sich alles verändert“: East Side Gallery wird 35

Nach dem Fall der Berliner Mauer war sie ein Ort für die alternative Szene, heute ist sie ein Kunstdenkmal, umgeben von Büros und Luxuswohnungen: Die East Side Gallery gilt als längste Open-Air-Galerie der Welt.

Deutsche WelleDjamilia Prange de Oliveira & Silke Wünsch | DW German News Service, 26.09.2025
Das wohl bekannteste Kunstwerk der East Side Gallery: Der "Bruderkuss" zwischen Breschnew und Honecker von Dmitri Vrubel
Das wohl bekannteste Kunstwerk der East Side Gallery: Der "Bruderkuss" zwischen Breschnew und Honecker von Dmitri Vrubel © Arnulf Hettrich/imageBROKER/picture alliance

Die East Side Gallery - ein touristischer Hotspot mit Millionen Besucherinnen und Besuchern jährlich - ist das längste noch erhaltene Teilstück der Berliner Mauer. Es ist ein Gesamtkunstwerk, das sich über 1,3 Kilometer erstreckt. Entstanden ist die East Side Gallery kurz nach dem Mauerfall - in einer Zeit, in der im ehemals geteilten Berlin eine ganz besondere Stimmung herrschte: eine Mischung aus Aufbruch, Hoffnung, Improvisation und dem Gefühl, alles sei möglich.

Hinter der Ostseite der Berliner Mauer gab es seit dem Abbau der Grenzanlagen viel Brachland und ungenutzten Platz, den die Menschen für sich einnahmen - ganz vorne mit dabei waren Künstlerinnen und Künstler, die aus der ganzen Welt angereist kamen und im Sommer 1990 begannen, die Mauer mit ersten großflächigen Gemälden zu versehen.

Künstlerische Freiheiten

Die Atmosphäre war informell: Es gab keine strengen Genehmigungsverfahren, die Leute brachten einfach Leitern, Farbeimer und Spraydosen mit und begannen zu arbeiten. Rund 118 Künstlerinnen und Künstler aus 21 Ländern bemalten schließlich die Betonsegmente. Manche Werke waren politisch - etwa Dmitri Vrubels berühmtes "Bruderkuss"-Motiv mit Erich Honecker und Leonid Breschnew, den beiden ehemaligen Staatsoberhäuptern der DDR und der Sowjetunion (Titelbild), andere Gemälde waren poetisch, abstrakt oder humorvoll. Es entstand ein buntes Freiluftkunstwerk, das nicht nur den politischen Umbruch dokumentiert sondern auch als Symbol für Freiheit, Kunst im öffentlichen Raum und die bewegte Geschichte Berlins gilt.

Die Kunstszene siedelte sich hier damals an. "In dem Areal zwischen Spree und Mauer lebten vor über dreißig Jahren noch fast 300 Menschen in Wohnwagen und improvisierten Behausungen", erklärt die Politik- und Kulturwissenschaftlerin Anna von Arnim-Rosenthal. Seit 2018 leitet sie die East Side Gallery bei der Stiftung Berliner Mauer. 

Künstlerinnen und Künstler malten im Sommer 1990 einfach drauf los
Künstlerinnen und Künstler malten im Sommer 1990 einfach drauf los © Paul Zinken/dpa/picture alliance

Eine Wagenburg mitten in Friedrichshain

"Aber hier hat sich, bezogen auf das Umfeld, alles verändert", sagt von Arnim-Rosenthal. 1996 machte Berlin auf Druck des Senats das Gelände für städtebauliche Entwicklung frei, die hier ansässigen Künstlerinnen und Künstler, die Clubs und Wagenburgler mussten umziehen


Anfang der 2000er wurde das Areal an den amerikanischen Milliardär Philip Anschutz verkauft. "Und deswegen haben wir hier jetzt eher Hochhäuser, Hotels, die Uber Arena, Büros, die Mall und so weiter ", sagt von Arnim-Rosenthal. "Das alternative Leben wurde an einen anderen Ort verdrängt."

Das einzige Überbleibsel der Wagenburg ist ein Loch, das die Wagenburgler als Abkürzung in die Mauer gestemmt haben - damit man schneller auf die andere Seite kam.

Der Schotte Rab Lewin, der ab 1992 mal hier, mal da in besetzten Häusern lebte, war der Einzige, der das Leben in der Wagenburg fotografieren durfte. Seine Bilder zeigen den Alltag der Community und machen deutlich, wie sehr sich das Areal seitdem verändert hat. 

"Wir stehen jetzt hier genau an der Stelle, an der Rab das Bild aufgenommen hat", sagt von Arnim-Rosenthal, während sie eins seiner Bilder schräg in die Luft hält. Wo damals dicht an dicht Wohnwagen standen, ragt heute der Stern eines Autokonzerns in den blauen Himmel. 

Investoren versus Denkmalschutz

Die Anschutz-Group ließ hier ein stark nachgefragtes Stadtquartier entstehen. Seit den 1990er-Jahren sind Neubauten, Hotels, Bürokomplexe und Luxuswohnungen entstanden - vor allem entlang der Spree, wo die East Side Gallery parallel zum Fluss verläuft.

2008 eröffnete dort die heutige Uber Arena, in der Konzerte, Sport- und Showevents stattfinden. Daneben gibt es das East Side Mall-Einkaufszentrum und zahlreiche Bars, Clubs und Restaurants. Die Promenade an der Spree wurde ausgebaut und ist heute beliebter Spazier- und Touristenspot.

Gegen die Projekte der Anschutz Group hat es immer wieder Proteste gegeben - Kritiker beklagten, dass die historische Gedenkstätte der East Side Gallery durch Investorenprojekte bedrängt oder unterbrochen werde. Initiativen wie die "East Side Gallery retten" fordern, den Ort als authentisches Denkmal der Mauer zu bewahren. Kritik gab es auch, weil dem konservativ-evangelikalen Unternehmer Anschutz vorgeworfen wird, Kampagnen gegen queere Menschen finanziell zu unterstützen. 

Gute Miene zum bösen Spiel?

Dass Berlin die Bebauung des Areals mit Luxuswohnungen und Hotels unterstützt hat, müsse man im historischen Kontext betrachten, sagt von Arnim-Rosenthal.

"Die Mauer wollten die Berliner eigentlich nicht mehr im Stadtbild haben, es gab nur wenige Stimmen, die sie erhalten wollten. Das Areal lag brach, war aber attraktives Bauland. Man hat also versucht, Kompromisse zu finden: Die Stadt weiterzuentwickeln, aber trotzdem diesen Ort hier zu bewahren", erklärt von Arnim-Rosenthal. 

Trotz Bebauung: Die Kunst sei noch da, sagt von Arnim-Rosenthal, und das sei das Wichtigste. "Die Idee 1990 war, die Mauer, die so viele Menschen das Leben gekostet hatte, umzudeuten und aus diesem Ort der Angst und des Todes einen Ort der Kunst, Begegnung und Freiheit zu schaffen."

Vor einem ihrer Lieblingskunstwerke bleibt Anna von Arnim-Rosenthal stehen: "Die diagonale Lösung" des russischen Künstlers Michail Serebrjakow. Das Bild zeigt einen erhobenen Daumen, der durch eine Kette hochgehalten wird. "Es geht dem Künstler darum, zu sagen: Gute Miene zum bösen Spiel", erklärt von Arnim-Rosenthal.

Und so ist die East Side Gallery an ihrem 35. Geburtstag, der am 28. September offiziell gefeiert wird, eine Mischung aus Kunstdenkmal, touristischer Attraktion, Eventlocation und Luxus-Wohnlandschaft, die nicht unumstritten, jedoch weltweit einzigartig ist.