Provokateur am Puls der Zeit
Die deutsche Kritik nimmt die spektakulären Arbeiten des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikow begeistert auf.

Dieser Film trifft einen Nerv der Zeit. „Der die Zeichen liest“, im russischen Original „Uchenik/Ученик“ betitelt, rief bei seinem deutschen Kinostart am 19. Januar ein begeistertes Medien-Echo hervor. Regisseur Kirill Serebrennikow greift ein Thema auf, das viele Gemüter bewegt, und betrachtet es aus ungewohnter Perspektive: Während sich das halbe Abendland vor Terrorakten islamistischer Fanatiker fürchtet, führt ihm Serebrennikow das destruktive Potenzial seiner eigenen religiösen Tradition vor Augen.
In „Der die Zeichen liest“ wird der 16-jährige Wenja ohne erkennbaren Anlass zum orthodoxen Fundamentalisten. In der Schule weigert er sich, neben Mädchen in Bikinis zu schwimmen, und sprengt den Unterricht, indem er gegen Sexualaufklärung und Evolutionstheorie wettert. Seinen Hetzpredigten stehen die Erwachsenen rat- und hilflos gegenüber. Nur die junge Biologielehrerin Elena wehrt sich gegen solchen Glaubensfuror und wird dadurch sein Opfer: Wenja bezichtigt Elena in einer perfiden Schlusspointe, sie habe ihn missbraucht.
Unerbittlich führt Kirill Serebrennikow mit seinem Film fanatisches Christentum vor. Bei allen hasserfüllten Bibelzitaten, die der Eiferer Wenja im Mund führt, werden die Belegstellen in der Heiligen Schrift eingeblendet. Der Film beruht auf dem Stück „Märtyrer“ des deutschen Gegenwarts-Dramatikers Marius von Mayenburg. Als es 2012 vom Autor selbst an der Schaubühne – einem der führenden Berliner Theater, bekannt für seine realitätsnahen Inszenierungen – uraufgeführt wurde, bemängelte die Kritik, der Stoff verfehle die Lebenswelt junger Leute: In Deutschland träten christliche Sektierer selten auf.
Kirill Serebrennikow hat die Handlung nach Kaliningrad verlegt, wodurch sie an Relevanz und Aktualität gewinne, wie er betont: „Der junge Protagonist hat die Religion gefunden. Er findet heraus, dass Fanatismus etwas ist, das Macht verleiht.“ Im Film unterstützt ihn ein Priester als Religionslehrer tatkräftig – nicht von ungefähr, so der Regisseur: „In Russland ist die Religion überall. Sie ist zur zweiten offiziellen Ideologie geworden. Obwohl die Kirche vom Staat getrennt ist, ist die orthodoxe Kirche auf allen Ebenen der Gesellschaft aktiv; besonders in der Bildung. Sie diktiert, was richtig und was falsch ist, und sie folgt der offiziellen Ideologie.“
Erste Regiearbeiten in Rostow
Dass Serebrennikow für seinen jüngsten Film ein Bühnenstück adaptiert hat, ist kein Zufall: Er kommt vom Theater und kann auf etliche spektakuläre Regiearbeiten zurückblicken. 1969 in Rostow am Don als Sohn eines Chirurgen und einer Lehrerin geboren, hatte er mit nur acht Jahren eine Art Initiationserlebnis, als er Aufführungen von Juri Ljubimow am Moskauer Taganka-Theater sah. Zwar studierte er auf Wunsch seiner Eltern Physik, doch zugleich inszenierte er bereits in den 1990er-Jahren Stücke an diversen Häusern seiner Heimatstadt.
2001 brachte er in Moskau Wassilij Sigarews Skandalstück „Plastilin“ über einen geschändeten Jungen auf die Bühne – das war Serebrennikows Durchbruch. Seither hat er in Moskau und St. Petersburg mehr als 30 Dramen und Opern inszeniert, darunter an berühmten Häusern wie dem Tschechow-Künstlertheater, dem Bolschoi und dem Marinskij-Theater. 2008 gründete er die Schauspiel-Regie-Klasse „Das siebte Studio“, die 2012 Teil des neuen Moskauer Gogol-Zentrums wurde, mit ihm als Intendanten. Von 2011 bis 2014 leitete er zudem die experimentelle „Plattform“-Werkstatt im Winsawod-Zentrum für zeitgenössische Kunst.
Auf den umtriebigen russischen Theatermacher ist längst das Ausland aufmerksam geworden. Nach Gastspielen in Riga inszenierte er ab 2012 in Deutschland, angefangen mit „American Lulu“ an der Komischen Oper Berlin. Dort präsentierte er im Oktober 2016 den „Barbier von Sevilla“ von Rossini als „Berlins erste Smartphone-Oper“, so der Kritiker Udo Badelt, der im „Tagesspiegel“ lobte: „Er greift ein absolut heutiges Thema auf, ohne sich dabei nur billig an die Gegenwart ranzuschmeißen.“ 2015 hatte Serebrennikows Version der
„Salome“ von Richard Strauss Premiere; sie läuft noch im Repertoire der Stuttgarter Oper. Im Herbst 2017 wird der Regisseur an dem Haus „Hänsel und Gretel“ von Engelbert Humperdinck inszenieren. Serebrennikow arbeitet so häufig in Deutschland, dass er inzwischen auch eine Wohnung in Berlin hat.
Ein internationales Publikum erreicht er mit seinen Filmen; er begann mit Musikvideos und hat inzwischen 13 Spielfilme gedreht. Ebenfalls mit Erfolg: „Juris Tag“ gewann 2008 den Großen Preis des Warschauer Filmfestivals. „Betrug“ über zwei fremdgehende Ehepaare wurde 2012 im Wettbewerb von Venedig gezeigt, „Uchenik“ 2016 in Cannes. Sein jüngster Film lief bereits in acht europäischen Ländern, hat aber noch keinen Kinostart in Russland – was Serebrennikow schmerzen dürfte. „In Westeuropa ist der Künstler ein Teil des Establishments“, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“: „In Russland ist er ein Held. Weil er hilft, sich gegen etwas aufzulehnen.“