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Der globale Poet

Der brasilianische Lyriker Ricardo Domeneck vernetzt die internationale Kunstszene Berlins.

Astrid Herbold, 01.10.2015

Schwarzes Hemd, in der Hand eine selbstgedrehte Zigarette, auf dem Tisch vor ihm ein kalt gewordener Kaffee: Wie Ricardo Domeneck da in Berlin-Prenzlauer Berg in einem Straßencafé sitzt, entspricht er auf den ersten Blick genau dem klassischen Bild des jungen Dichters. Vor Jahren hat der brasilianische Künstler sich in einer Videoperformance selbst persifliert: Er kauerte lesend in einem Bett, über sich einen Regenschirm – und spielte so das berühmte Bild „Der arme Poet“ von Carl Spitzweg nach. Dazu las er Texte von Wladimir Majakowski, John Keats, Ludwig Wittgenstein und Gertrude Stein.

Der 38-Jährige ist ein literarischer Wanderer zwischen den Welten. Einer, der gekonnt mit Zitaten aus vielen Sprachen und Epochen jongliert. Geboren in der Nähe von São Paulo, lebt er seit 2002 in Berlin und gehört er zu einer neuen Generation von Lyrikern, die wenig von Grenzen und medialen Beschränkungen hält. Das Buch ist für ihn ebenso wichtig wie der flüchtige Eintrag im Internet, die vortragende Stimme genauso bedeutsam wie der gedruckte Buchstabe. Zwar ist Domeneck in seiner Heimat vor allem mit seinen mittlerweile fünf Gedichtbänden bekannt geworden, aber für ihn kann Lyrik ebenso bei Twitter stattfinden, sie kann als Songtext auftauchen oder als gesprochene Sprache bei Performances. „Mein Werk besteht nicht nur aus Büchern.“

Mit anderen Kulturen ist Domeneck früh in Berührung gekommen, zum ersten Mal in den 1990er-Jahren als Austauschschüler in den USA. Später, während seines Philosophiestudiums in São Paulo, kam er für einige Monate nach München – und bemerkte, wie der Kulturschock und die damals fremde deutsche Sprache sein Schreiben beeinflussten. „In München entstanden die ersten Gedichte, die ich später veröffentlicht habe.“ Er ließ sich in Deutschland nieder, zog München jedoch das bunte, kosmopolitische Berlin vor.

Durch das Internet, das Domeneck in vielfacher Weise nutzt – er betreibt unter anderem das genreübergreifende OnlineKunstmagazin „Hilda“ – hat sich das Berufsbild des Dichters völlig verändert. „Ich kann meine Texte jetzt viel einfacher verbreiten.“ Satirische Gedichte etwa, in denen er aktuelle politische Themen aufgreift, veröffentlicht er sofort. Sein Geld verdient er vor allem mit Live-Auftritten. In Europa mit seiner hohen Festivaldichte funktioniert das ziemlich gut. Von Mai bis Oktober ist Saison, da ist Domeneck viel unterwegs. Trotzdem wünscht er sich noch mehr Austausch. „Obwohl es in Berlin eine große internationale Literaturszene gibt, sehe ich selten deutsche Autoren bei den Lesungen ausländischer Kollegen.“ Oft sei die Sprache das Problem.

Domeneck, der auch als Übersetzer arbeitet, will das ändern. Mit dem US-amerikanischen Künstler Ellison Glenn alias Black Cracker organisiert er mehrsprachige Abende, bei denen Dichter, Musiker und Videokünstler ihre Arbeiten vorstellen. Für Domeneck ist das auch eine Rückkehr zu den Wurzeln seiner Kunst: „Lyrik ist die populärste Kunstform der Welt – in der mündlichen Tradition.“ ▪