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Sprachkunst auf Weltniveau

Im Jahr 2016 können sich fünf türkischsprachige Schriftsteller Hoffnungen auf den Rückert-Preis der Stadt Coburg machen. Viele ihrer Werke stoßen wichtige gesellschaftliche und politische Debatten an.

Catharina Dufft, 02.10.2015

Hasan Ali Toptaş – der türkische Kafka

Dem deutschen Publikum ist Hasan Ali Toptaş seit Erscheinen seines ersten Romans „Die Schattenlosen“ (1995/2006) ein Begriff. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ wurde das Buch als „poetisches Meisterwerk“ gefeiert und als „Weltliteratur, die ihre Herkunft nicht zu verleugnen braucht“. Als „Kafka der türkischen Literatur“ wird Toptaş in der Türkei schon länger als einer der wichtigsten Schriftsteller der Gegenwart gehandelt, der die Sprache auf einzigartige Art beherrscht und mit wenigen Worten Textgebilde zu erschaffen vermag, die in der zeitgenössischen türkischen Literatur einen Meilenstein setzten. Geprägt wurde Toptaş, 1958 in Südwestanatolien geboren, vor allem von Scheherazade, der bekannten Erzählerin der Märchen aus 1001 Nacht, und von Samuel Beckett. Seine Mutter, erzählt er, konnte zwar weder lesen noch schreiben, und im Haus gab es kein einziges Buch, doch begeisterte sie ihre Söhne mit unerschöpflichem Geschichtenreichtum. Literarisch haben ihn die türkische Erzähltradition und die westliche Literatur bis hin zu Borges gleichermaßen beeinflusst. Seit 2005 arbeitet er hauptberuflich als Autor, in den Jahren davor war er als Finanz- und Steuerbeamter tätig. Sein Werk wurde in der Türkei vielfach ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt.

Yeşim Ağaoğlu – die kreative Poetin

Die lange verdrängte osmanische Geschichte hebt Yeşim Ağaoğlu ebenso spielerisch in ihre Gedichte wie eine globale, teilweise ins Phantastische gleitende Gegenwart. 1966 in Istanbul als Kind einer ursprünglich aus Aserbaidschan stammenden, ebenso berühmten wie kosmopolitischen Familie geboren, ist sie heute eine international renommierte Künstlerin, die mit verschiedenen Medien arbeitet – darunter Installation, Fotografie und Performance –, sowie Autorin von neun Gedichtbänden. 2015 war sie Gast der ersten „Poetica“, einem von dem renommierten Verleger und Lektor Michael Krüger kuratierten Literaturfestival in Köln. Hier bewies sie, wie nahtlos sich die türkische Lyrik mit kreativer Vitalität in den Kontext von Weltliteratur einfügt. Ein wichtiger Schritt, bleibt doch die Lyrik Herzstück der türkischen Literatur, auch der zeitgenössischen, und wird in der Türkei ungebrochen breit rezipiert; international ist sie noch vergleichsweise wenig bekannt.

Aslı Erdoğan – die Globetrotterin

„Einen faszinierenden Sog, eine große poetische Intensität“, diagnostizierte die deutsche Literaturkritikerin Elke Heidenreich 2008 dem in Rio de Janeiro spielenden, vielfach ausgezeichneten Roman „Die Stadt mit der roten Pelerine“ (2001) von Aslı Erdoğan, die inzwischen international Anerkennung genießt. Ihr Werk wurde in viele Sprachen übersetzt. Bereits 1997 gewann ihre Kurzgeschichte „Holzvögel“ den Deutsche-Welle-Literaturpreis. 2008 erschien auch „Der wundersame Mandarin“ (2002) auf Deutsch. Erdoğan, 1967 in Istanbul geboren, gab ihre mit Stationen in der Schweiz und in Brasilien gespickte naturwissenschaftliche Karriere zugunsten ihres schriftstellerischen und journalistischen Schaffens auf. Ihr starkes soziopolitisches Engagement wie auch ihre literarischen, oft biographisch konnotierten Themen führten in der Türkei zu kontroversen Ansichten. Anerkannt ist ihr Werk gleichwohl: Auf den Yunus-Nadi-Preis 1990 folgte 2010 mit dem Sait-Faik-Preis die wichtigste türkische Literaturauszeichnung. Ihre Werke werden europaweit rezipiert, teilweise für Film und Theater adaptiert, die französische Zeitschrift „Lire“ erklärte Erdoğan 2005 zu einer der „50 Schriftsteller/innen der Zukunft“.

Oya Baydar – die einflussreiche Intellektuelle

1940 in Istanbul geboren, schrieb die bekannte Schriftstellerin, Soziologin und Journalistin ihren ersten Roman mit 17. Schon früh in der türkischen Linken engagiert, war Baydar nach dem Militärputsch 1971 mehrere Jahre inhaftiert. 1974 gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern der Sozialistischen Arbeiterpartei. Nach dem Coup d’Etat 1980 lebte sie zwölf Jahre im europäischen Exil, unter anderem in Frankfurt am Main, bevor sie 1992 in die Türkei zurückkehrte und sich nach jahrzehntelanger Pause wieder dem literarischen Schreiben zuwandte. Baydar erhielt in der Türkei die wichtigsten Literaturpreise. Zwei ihrer acht Romane erschienen auf Deutsch, zuletzt „Judasbäume“ 2011 im Ullstein Verlag. Gelobt wurde unter anderem der für viele Romane Baydars typische Dokumentarcharakter bei der Beschreibung politischer Ereignisse. Baydar lebt geradezu exemplarisch die in der Türkei traditionelle Doppelrolle einer Schriftstellerin und Intellektuellen, die den gesamtgesellschaftlichen Diskurs anstößt.

Sema Kaygusuz – die Grenzüberschreiterin

Sema Kaygusuz, geboren 1972 in Samsun am Schwarzen Meer, wurde bekannt als Autorin von Kurzgeschichten; für ihren Erzählband „Der Fleck auf der Truhe“ (2000) erhielt sie den Cevdet-Kudret-Literaturpreis. Ihr Romandebüt wurde von der türkischen Literaturkritik auch aufgrund ihrer poetisch-kunstvollen Sprache hochgelobt und erschien unter dem Titel „Wein und Gold“ auf Deutsch im Suhrkamp Verlag. Ebenfalls auf Deutsch erschien von ihr der – von der Kritik eher gemischt aufgenommene – Erzählband „Schwarze Galle“. Kaygusuz gehört zu jener Generation türkischer Autorinnen und Autoren, für die nationale Grenzen ebenso überwunden sind wie thematische und sprachliche Tabus – etwa das multiethnische, multireligiöse Erbe der Republik Türkei. Kaygusuz, die aufgrund der beruflichen Versetzungen ihres Vaters an den verschiedensten Orten der Türkei aufwuchs, spiegelt in ihren Erzählungen nicht zuletzt den breiten Geschichten-, Dialekt- und Legendenreichtum wider, der sie schon während ihrer Kindheit inspirierte. Es ist ein Glücks- aber kein Zufall, dass viele ihrer Texte auf Deutsch vorliegen: Kaygusuz war 2010/11 Gast des Berliner Künstlerprogramms des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und zuvor mit einem Stipendium des Goethe-Instituts als Stadtschreiberin in Berlin unterwegs. Ihre in dieser Zeit erschienenen, ins Deutsche übersetzten Texte laden ebenso wie ihre poetische, hochkomplexe Prosa zum Nachdenken ein, zum Perspektivwechsel – auch in unserem Blick auf die heutige Türkei und ihre Geschichte. ▪

Die Turkologin Dr. Catharina Dufft ist seit August 2013 Geschäftsführerin der Deutsch-Türkischen Jugendbrücke.

Der Rückert-Preis

Seit 2008 verleiht die Stadt Coburg den Rückert-Preis in Erinnerung an den Orientalisten, Übersetzer und Sprachforscher Friedrich Rückert (1788–1866). Er befasste sich mit mindestens 44 Sprachen, wobei die des Nahen und Mittleren Ostens den Schwerpunkt bildeten. Daher richtet sich der Preis vor allem an Autoren aus den arabischen, iranisch-afghanischen, türkischen und indischen Sprachräumen. Er wird am 31. Januar 2016 verliehen und ist mit 7500 Euro dotiert.

www.coburg.de/crp