Wo die Vielfalt zu Hause ist
Der Mix aus vielen Talenten macht die Kultur in Europa aus.
Alte Meister und moderne Kunst, futuristische Architektur und Fachwerkidylle, preiswürdiges Design und die schönsten Theater-, Musik- und Filmfestivals – wer behauptet, dass man sich im Leben immer entscheiden muss, der war noch nicht in Europa. Hier gibt es alles aus allen Neigungsfächern der schönen Künste. Und ja: Man sollte sich ruhig die Rosinen herauspicken. Es sind ja genug da.
Europa inspiriert. Seit Jahrtausenden muss die Muse Überstunden einlegen, um den enormen Output von Europas Kreativen zu befeuern. Von Künstlern wie Leonardo da Vinci, Vincent van Gogh, Berthe Morisot, Pablo Picasso oder Paula Modersohn-Becker. Von Ausnahmemusikern und -musikerinnen, deren Werke noch unsere Urenkel begeistern werden. Von Bach bis zu den Beatles, von Mozart bis Anne-Sophie Mutter. Europa komponiert, malt und singt nicht nur. Es schrieb schon immer auch mit Geschichten Geschichte. Auf Film gebannt von Ausnahmetalenten wie Alfred Hitchcock, Agnès Varda, Pedro Almodóvar oder Andrzej Wajda. Zu Papier gebracht von Jane Austen, Fjodor Dostojewski, Astrid Lindgren oder Marcel Proust. Und natürlich von Johann Wolfgang von Goethe. Der Dichterfürst machte seinem Ruf als Universalgenie auch damit Ehre, dass selbst er – der nicht gerade unter Minderwertigkeitsgefühlen litt – wusste, vor wem man sich verneigen muss. Er schwärmt in „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ von Europa als dieser „unschätzbaren“ Kultur, „seit mehreren tausend Jahren entsprungen, gewachsen, ausgebreitet, gedämpft, gedrückt, nie ganz erdrückt, wieder aufatmend, sich neu belebend und nach wie vor in unendlichen Tätigkeiten hervortretend.“
Großer Auftritt für Altes und Neues
Um all der großen Kunst, dem Geist eine würdige Bleibe zu bieten, hat auch die Architektur Bemerkenswertes vollbracht. In Europa steht eines der ältesten Opernhäuser der Welt, das Teatro di San Carlo von Neapel. 1737 hatte Karl III. den Bau angeordnet – und umgesetzt. Knapp 2000 Kilometer weiter nördlich findet sich aber auch eine der modernsten Opernbühnen: Die für 400 Millionen Euro frisch umgebaute Staatsoper Unter den Linden Berlin. Innerhalb von Sekunden erschafft die ausgefeilte Bühnentechnik völlig lautlos neue Welten. Dazu kann man die gesamte Szenenfläche kippen. Das gibt es sonst nirgends.
Oder die legendäre Biblioteca Joanina in der portugiesischen Universitätsstadt Coimbra: eine Meisterleistung des Barocks. Die Regale sind aus Rosen- und Ebenholz. Der Bestand der Bibliothek umfasst über 300 000 Bände, darunter 70 000 aus der Frühen Neuzeit und davor. In keinem Kontinent stehen mehr Baudenkmäler, Opernhäuser, Theater, Museen als in Europa.
672 Millionen Touristen kommen jedes Jahr
Dabei bekommt nicht nur das Alte seinen großen Auftritt. Immer neue Attraktionen bereichern die europäische Kulturlandschaft um stilbildend futuristische Bauten. Darunter der Kulturpalast L’Hemisfèric von Santiago Calatrava in Valencia, das Kunsthaus Graz, „Friendly Alien“ genannt, oder der Louvre. Natürlich. Die ehemalige Residenz der französischen Könige in Paris wurde am 10. August 1793, auf den Tag genau ein Jahr nach Abschaffung der Monarchie, als „Zentrales Kunstmuseum der Republik“ eröffnet. Seit 1989 betritt man das Kunstmuseum durch die Glaspyramide von Ieoh Ming Pei, die wie ein havariertes Raumschiff im Hof ruht. Kultur innen und außen. Kein Wunder, dass der Kontinent das beliebteste Reiseziel ist: 672 Millionen Touristen machen jedes Jahr in Europa grenzüberschreitend Ferien – die meisten besuchen Frankreich, Spanien und Italien.
Die Sehnsucht, mehr zu wagen
Man müsste über die Lebenszeit einer Galapagosschildkröte verfügen, wollte man auch nur die wichtigsten Kulturtempel Europas besuchen. Darunter auch viele, die den Wissenschaften huldigen, wie das Deutsche Museum in München, eines der größten Technikmuseen. Denn auch das ist Europa. Hier steht nicht nur die Wiege der Kultur. Es gibt auch eine hochproduktive Geburtsstation der Ideen. Ein Europäer kam als Erster zu der Überzeugung, dass die Erde unmöglich eine Scheibe sein kann. Übrigens schon im antiken Griechenland. Der Buchdruck mit beweglichen Lettern wurde hier erfunden, die Pizza, der Computer, Weihnachten, das Auto, das Kino, die Psychoanalyse, die Narkose, das Penicillin, der Fußball und der Feminismus. Das alles verdankt sich einer ausgeprägten Sehnsucht, über den eigenen Tellerrand zu schauen, mehr zu wagen, weit über die engen Grenzen der eigenen Existenz hinaus zu denken.
47 Länder teilen sich einen Kontinent
Wo sich 47 Länder einen Kontinent teilen und zudem – noch – 28 zu einer politischen Union zusammengeschlossen sind, da könnte man manchmal schon Platzangst bekommen, würde Europa nicht wie eine russische Matrjoschka immer andere Aspekte, Perspektiven, immer wieder Staunenswertes, Atemberaubendes, Neues hervorbringen. Zwar bewahrt sich jede Nation ihre Traditionen, ihren Eigensinn, ihr Lokalkolorit und ihre Sprache. Gleichzeitig bleibt alles im Fluss, auch in der Mode, in der Musik, im Kino, im Theater, in der Kunst. „In Vielfalt geeint“ lautet der Leitspruch der Europäischen Union. Es bringt ein Selbstverständnis auf den Punkt, das geprägt ist von einem enormen Reichtum der Formen und Lebensstile. Kumulationspunkte dafür sind die großen Metropolen wie Paris, Madrid, Berlin, Prag oder Wien. Kein Wunder, wenn sie als beliebte europäische Reiseziele Besucherzahlen verzeichnen, die ihre Einwohnerzahlen leicht in den Schatten stellen.
Europa ist klug. Deshalb wissen die Menschen, dass Liebe durch den Magen geht. Ein paar der besten Restaurants der Welt haben hier ihre feinen Adressen. Aber auch die schönsten Märkte, darunter beeindruckende Neuzugänge wie die Berliner Markthalle 9, der Naschmarkt in Wien oder der Mercat de la Boqueria in Barcelona. Dabei ernähren sich viele Europäer zunehmend in dem Bewusstsein, dass auch Esser eine politische und moralische Verantwortung tragen. Ein Thema, über das sich gut streiten lässt. Denn auch das besitzt Europa: große Debattierlust. Wie in jeder guten Beziehung muss man sich auch mal auf die Nerven gehen, fremd sein und mit den Türen knallen können. Jedenfalls wird es dann nicht langweilig. Immer ist da Spannung, Aufbruch, Puls.
Trotz alldem ist Europa natürlich weit davon entfernt, perfekt zu sein. Aber am Ende muss man es auch gerade dafür lieben.
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