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„Bist du wirklich Jüdin?“

Diese Frage hat Hagar Levin in Berlin schon oft gehört. Die Israelin leistet mit ihrem Projekt „Shalom Rollberg“ wichtige Begegnungsarbeit für muslimische Kinder und Jugendliche.

Igal Avidan, 05.10.2016

Als Hagar Levin in Israel Geschichte des Nahen Ostens studierte, begegnete sie niemals Menschen aus den arabischen Ländern. Sie kannte den Irak, Syrien und Ägypten lediglich aus Büchern, sagt die 28-Jährige. Nach Berlin kam die Israelin 2012 im Rahmen des deutsch-israelischen Freiwilligenprogramms Kom-Mit-Nadev – Hebräisch für „Komm Freiwilliger“. Erst während ihrer Arbeit hier für den Verein Morus 14, der sich im Berliner Bezirk Neukölln für Bildung, Integration und Gewaltprävention engagiert, lernte Hagar Levin Araber aus dem ganzen Nahen Osten kennen. Denn im Rollbergviertel leben 6000 Menschen aus gut 30 Nationen, überwiegend aber haben sie ihre Wurzeln in der Türkei oder in arabischen Ländern. 80 Prozent der Jugendlichen in diesem Stadtteil der deutschen Hauptstadt kommen aus Einwandererfamilien, die meisten von ihnen sind Muslime.

„Das Leben im Rollberg ist begrenzt auf die Großfamilie“, sagt Marianne Johannsen, Vereinsvorsitzende von Morus 14. „Das Problem der Kinder hier ist, dass auch wenn sie in Berlin geboren wurden, sie nicht aus ihrem Viertel herausgekommen. Daher hat der Verein sich um einen Freiwilligen aus dem Ausland bemüht.“

Praktikantin Levin lernte Deutsch und begann mit den Kindern des Rollbergviertels zu arbeiten. Bald stellte sie fest, dass manche Worte im Migrantenviertel belastet waren. „‘Jude‘ für viele der Kinder hier ein Schimpfwort. In Morus 14 hören wir es zwar nur selten. Aber viele Familien sprachen am Anfang nicht mit mir. Denn sie hatten in ihrem Leben noch nie einen Israeli getroffen. Vielen Kindern fiel es schwer zu glauben, dass ich Jüdin bin. Auch viele Eltern glaubten nicht, dass Juden wie normale Menschen aussehen.“

Allmählich gewann Hagar Levin durch ihr ansteckendes Lächeln und ihre Offenheit das Vertrauen derjenigen Eltern, für die die Bildung ihrer Kinder an erster Stelle steht. Dafür und um ihnen Begegnungen mit Juden zu ermöglichen, gründete sie nach Ende ihres Praktikums das Projekt „Shalom Rollberg“. Zusammen mit fünf ehrenamtlichen jüdischen Mitarbeitern bietet sie kostenlose Bildungsaktivitäten an, in einer Englischgruppe, Kunstgruppe, Theatergruppe, Sportgruppe und in einem Modedesignkurs. „Es kommen Mädchen mit Kopftuch und ohne Kopftuch“, sagt Levin. „Mode interessiert doch alle.“

Die israelische Kunsttherapeutin Nehama Bauch leitet seit 2014 die Kunstgruppe: „Ich mache meine Herkunft nicht zum Thema. Aber es ist normal, dass die Kinder neugierig sind und dann beantworte ich ihre Fragen. Die Kinder gewinnen dann allmählich Vertrauen zu uns.“

Die 14-jährige Sara El-Jaziri, die ein Kopftuch trägt, schwärmt von Hagar, bei der sie Englischunterricht nimmt. „Sie ist eine tolle Schülerhelferin.“ El-Jaziris Mutter kommt aus Syrien, ihr Vater aus dem Irak. Die Familie weißt den kostenlosen Nachhilfeunterricht zu schätzen. „Der ist auch für andere Kinder hier, die Hilfe brauchen, sehr wichtig, denn ihre Familien könnten dafür nicht bezahlen“, sagt Frau El-Jaziri.

Die 17 Jahre alte Chaima schätzt den Nachhilfeunterricht in Mathematik, den sie montags und mittwochs bekommt. Chaima ist in Beriln geboren, ihre Eltern kommen aus Algerien. Die junge Frau spielt Fußball in einer Frauenmannschaft in Neukölln. In der Moschee betet sie vor allem zum Fastenmonat Ramadan. Chaima betont, „es gab nie irgendwelche Probleme, weil Hagar Israelin ist“.

Gilles Duhem, Geschäftsführer von Morus 14, bestätigt, dass sich keines der Kinder oder der Jugendlichen an den jüdischen Freiwilligen störe. Für ihn ist das größte Problem, die Jugendlichen dazu zu bringen, Termine einzuhalten. Rund 40 Schülerinnen und Schüler nehmen an den verschiedenen Gruppenangeboten teil. „Die Zahl variiert wöchentlich wegen der Unverbindlichkeit mancher Jugendlichen und ihrer Eltern.“ Ob die Gruppenteilnehmer durch die Angebote von „Shalom Rollberg“ bessere Schüler werden? „Das ist die Illusion von Wissenschaftlern. Ich bin schon froh, wenn sie regelmäßig kommen, sich austauschen, wenn sie lernen sich zu artikulieren, auch auf Englisch, und eine Meinung zu bilden.“

Zu dieser Horizonterweiterung gehören auch regelmäßige Führungen mit Rabbiner Daniel Alper durch die Neue Synagoge in Beriln, um antisemitischen Vorurteilen entgegen zu wirken. Im Frühjahr 2016 wurde Hagar Levin zum Tag des Grundgesetzes für „Shalom Rollberg“ im Wettbewerb „Aktiv für Demokratie und Toleranz“ ausgezeichnet.

Gilles Duhem möchte unbedingt, dass Hagar ihr Projekt mit den muslimischen Migrantenkindern fortsetzt, „weil sie hier eine Jüdin zum Anfassen ist.“ 2016 kommt die Finanzierung vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband. Aber langfristig ist die Arbeit nicht gesichert. Was Duhem enttäuscht, ist die mangelnde Bereitschaft vieler Eltern, Vereinsmitglieder zu werden – obwohl der Jahresbeitrag mit 25 Euro sehr moderat ist. Unter den 230 Mitgliedern von Morus 14 seien nur wenige Migranten. Auch wenn die Finanzierung weiter gelingt, wird der Geschäftsführer umlernen müssen: Hagar Levin heiratet. Ihren neuen, komplizierten Nachnamen kann er noch nicht aussprechen. ▪

shalom-rollberg.morus14.de