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Martin Luther und die Folgen – 500 Jahre Reformation

Die Reformation gehört zu den einschneidenden Ereignissen der europäischen Geschichte. Über ihre Wirkung und ihren Urheber wird zum Reformationsjubiläum 2017 diskutiert.

Dirk Pilz, 05.07.2016

Vor 500 Jahren gingen wesentlich vom deutschsprachigen Raum Veränderungen aus, die sich tief in die Weltgeschichte eingeschnitten haben. Seitdem gibt es im Christentum die Trennung zwischen protestantischen Konfessionen und ka­tholischer Kirche. Seitdem entwickelten sich die Gewissensfreiheit des Einzelnen, die deutsche Sprache, wie wir sie heute kennen, und das heutige Berufsverständnis. Was damals geschah, heißt heute Reformation. Sie begann als theologischer Streit, entscheidend entfacht von dem jungen Mönch Martin Luther (1483–1546), der in der Provinz, in der kleinen Stadt Wittenberg an der dort eben erst gegründeten Universität lehrte. Im Oktober 1517 verschickte er 95 Thesen zu theologischen Fragen, die er – wie damals üblich – öffentlich diskutieren wollte. Dass Luther die Thesen auch an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg angeschlagen haben soll, ist jedoch wohl eine Legende. Es entfachte sich ein Streit, der entgegen Luthers Absicht zur Kirchenspaltung führte und – nach Luthers Tod – zu den sogenannten Konfessionskriegen zwischen protestantischen und katholischen Fürsten, zu einer Neuformatierung der europäischen Landkarte. Luther entwickelte eine eigene, später evangelisch genannte Theologie, die sich gegen das Papstamt wendete und den Glauben des Einzelnen ins Zentrum rückte. Er verließ seinen Augustinerorden, heiratete, übersetzte die Bibel ins Deutsche, verfasste eine große Zahl an viel gelesenen Schriften – und begründete damit mit, was heute die evangelischen Kirchen sind. Heute gehören rund 37 Prozent der 2,2 Milliarden Christen weltweit einer protestantischen Gemeinschaft an. In Deutschland sind 29 Prozent der Bevölkerung Protestanten und 30 Prozent Katholiken – 34 Prozent sind allerdings auch ohne Konfession.

Luthers 95 Thesen, verfasst in Latein, sind eingegangen ins kulturelle Gedächtnis 
als Thesenanschlag in Wittenberg. 2017, 500 Jahre nach diesem wirkungsreichen Ereignis, wird deshalb weltweit das Reforma­tionsjubiläum gefeiert, besonders in Deutschland: Es wird von der Kirche 
wie vom Staat organisierte Großveran­staltungen, Gedenkfeiern, Ausstellungen und Konferenzen geben; der 31. Oktober 2017 wird zudem bundesweit einmalig 
Feiertag sein. Das Reformationsjubiläum ist damit eine der aufwendigsten Erinnerungsfeiern. Schon 2008 wurde von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und staatlicherseits die „Reformationsdekade“ ausgerufen, die mit wechselnden Themenjahren das weite inhaltliche Spektrum der Reformation aufgreift und zum Jubiläumsjahr hinführt.

Gleichzeitig haben die Bundesregierung und mehrere Bundesländer eine staatliche Geschäftsstelle „Luther 2017“ eingerichtet. Die staatliche Seite will vor allem die Wirkungen und Errungenschaften der Reformation in Kunst, Kultur, Gesellschaft und Politik aufzeigen, international Deutschland als „Land der Reformation“ bekannt machen und das Erbe der Reformation vermitteln. Unbestreitbar gehört die Reformation zu den einschneidenden Ereignissen in der deutschen, europäischen und der Welt-Geschichte. Sie hat das theologische, his­torische, mentale und politische Selbstverständnis Deutschlands und Europas, des Westens generell, tief geprägt. Sie hat die deutsche Sprache ebenso beeinflusst, wie sie auf Musik und Kunst wirkte, sie hat dem Bildungswesen wichtige Impulse gegeben und die Grundlagen für gesellschaftliche und politische Teilhabe, für das Konzept des mündigen Bürgers geschaffen.

Ohne Reformation sähe die Welt in vielen Belangen sehr anders aus – darüber herrscht weitgehend Einigkeit. Thies Gundlach, Vizepräsident des Kirchenamts der EKD und zuständig für die Grund­ausrichtung des Reformationsjubiläums, glaubt zudem, wir lebten auch heute wieder „in einer eigenen Art vorreformatorischer Zeit“, in der fundamentale Selbstverständlichkeiten infrage gestellt würden. Luthers Weg vom Augustinermönch zum Entdecker einer Freiheit zum Glauben, ohne Rücksicht auf institutionelle ­Anforderungen, sieht er als existenziellen ­Archetyp aller Befreiungswege.

Doch weder die Reformation noch Luthers Theologie verstehen Historiker wie Theologen als bloße Befreiungsgeschichte. Ohnehin sollte man Historiker zu Jubiläen besser nicht einladen – sie werden zuverlässig jene Punkte aus der Reformationsgeschichte herausgreifen, die sich schlecht feiern lassen – von Luthers judenfeindlichen Schriften bis zu den Konfessionskriegen. Aber auch über diese Themen wird zum Reformationsjubiläum natürlich diskutiert, vor allem übrigens auf Initiative der EKD selbst. Ideengeschichtlich hatte Luther viele Vorläufer, die seine Ideen bereits vorwegnahmen; aber Luther konnte sich durch Mut und Geschick, durch Aufmerksamkeit in ganz Europa, die er auch dem Aufkommen des Buchdrucks verdankte, und durch die politische Gunst der Stunde behaupten. Seine Ideen fanden schnell Verbreitung. Die Geschichte der Reformation war dennoch in sich widersprüchlich und wie alle historischen Verläufe offen: Die Reformation brach nicht mit dem Mittelalter, sie wuchs aus ihm heraus. Das Mittelalter war nicht „dunkel“, viele Ideen, die heute als modern gelten, wurden damals bereits formuliert. Insofern ist die Reformation die Zuspitzung mittelalterlicher Gedanken, nicht deren Überwindung. Sie geht auch nicht in einer Luther-Geschichte auf, vielmehr ist Luther eine zentrale, aber nicht die einzige prägende Gestalt der frühen Reformationszeit.

Es gilt entsprechend, das Spätmittelalter als eine Zeit von enormer Vielfalt wahrzunehmen, genauso wie die Reformationszeit selbst vielfältig ist. Bereits der Begriff „Reformationszeit“ ist irreführend: Es ist nicht einfach die Zeit der Reformation, sondern auch der Renaissance. Zu Luthers Zeitgenossen gehörten auch andere Reformatoren wie Huldrych Zwingli und Johannes Calvin, auf die die EKD unermüdlich hinweist – und Renaissancegrößen wie der Künstler Leonardo da Vinci oder der Historiker und Staatstheoretiker Machiavelli.

Von einer Verfallstheorie mit Blick auf die katholische Kirche, die erst durch Luther erneuert wurde, wird daher nicht mehr ausgegangen. Die gesamte Reformationsgeschichte steht im engen Zusammenhang „mit der höchst pluralen Frömmigkeit, Theologie und Kultur des Spätmittelalters“, so der Historiker Thomas Kaufmann. Umstritten bleibt in der Forschung auch, welchen historischen Ort die Reformation in der Geschichte einnimmt. Ob man dabei von einer „überraschenden, sprunghaften Zäsur“ oder doch besser von einer „allmählichen Transformation“ sprechen soll, ist umstritten. Dass es aber die eine, geschlossene Reformation nicht gegeben hat, sondern nur eine Reformation im Plural, ist inzwischen Konsens. Luther wurde dabei von den Nachgeborenen vor allem als Projektionsfläche „vielfältiger Sehnsüchte, Hoffnungen, Feind- und Traumbilder“, so Kaufmann, genommen. Aber er ist – darin sind sich die Experten weitgehend einig – keine „Sondergestalt“, sondern ein uns Heutigen vielfach „fremder“ Mann, so Kirchenhistoriker Volker Leppin.

Dennoch gilt, dass von Luther eine einflussreiche Wirkungsgeschichte ausgegangen ist und noch ausgeht. Das lässt sich gerade an seinem Verständnis von (christlicher) Freiheit erkennen. In seiner 1520 erschienenen Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ etabliert er den Gedanken, dass ein Christ einerseits ein „freier Herr“ über alle Dinge und niemand untertan sei, andererseits aber auch ein „dienstbarer Knecht“ aller Dinge und damit jedermann untertan. Mit dieser These trifft Luther die folgenreiche Unterscheidung von „innerem“ und „äußerem“ Menschen; sie ist die Grundlage für eine evangelische Theologie, die den Glauben ins Zentrum des Christenseins rückt: Nicht die „Werke“, nicht „Gesetze“, auch nicht die Kirche, also nicht „äußerliche“ Faktoren sind für das („innere“) Seelenheil entscheidend, sondern allein der Glaube und Gottes ­Gnade sind ausschlaggebend.

Luthers Freiheitsbegriff ist vor allem ein theologischer. Aber er wurde nie nur so verstanden. Schon in den Deutschen Bauernkriegen (1523–1526) tauchte die Auffassung auf, dass dieses Freiheitsverständnis politisch anzuwenden sei. Luther hat sich ausdrücklich dagegen gewandt, doch die Idee einer Freiheit als Absage an Untertänigkeit entfaltete große Wirkung. Luthers Thesen wurden von verschiedener Seite in Anspruch genommen, auch missbraucht für die Begründung von nationalstaatlicher, sozialer und politischer Freiheit. Luther hat nicht die moderne Freiheit entdeckt, er hat eine Dialektik verstärkt, mit der Freiheit als ambivalenter Prozess kenntlich wird.

Es gibt viele gute Gründe zum 500. Jahrestag des „Thesenanschlags“ an die Reformation zu erinnern – auch weil sie ein wichtiger kultureller und geistesgeschichtlicher Umbruch war. Für den Theologen Ulrich Duchrow ist der entscheidende, dass die Reformation nicht an ihr Ende gelangt ist. Ihm geht es um eine erneuerte Kirche, „die alle einschließt – über die Grenzen von Religionen, Volkszugehörigkeit, Kontinenten und Eigeninteressen hinweg“. Diese „postkoloniale Interpretation der Reformationstheologie“ will ausdrücklich auf das Hier und Heute reagieren. Das kommt Luthers theologischem Selbstverständnis durchaus nahe. Für ihn hat Christentum vor allem eins bedeutet: „gelebter Glaube“. ▪

www.luther2017.de

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