Männern neue Wege zeigen
Kazım Erdoğan hat mit seiner Selbsthilfegruppe für türkeistämmige Männer viel erreicht – und ist noch lange nicht fertig.
Eigentlich könnte Kazım Erdoğan das Rentnerdasein in Berlin und in seinem Ferienhaus an der türkischen Westküste genießen – und zufrieden darauf blicken, was er in mehr als vier Jahrzehnten beruflich und ehrenamtlich bewirkt hat. Doch Ruhestand ist nichts für den Vater zweier erwachsener Töchter: Erst im April 2022 hat „Kazım abi“, Bruder Kazım, wie er respekt- und liebevoll von türkeistämmigen „Deutschländern“ angeredet wird, eine neue Aufgabe mit dem Vorsitz des Berliner Familienbeirats übernommen. Der Beirat besteht aus 30 Mitgliedern, er vertritt die Interessen von Familien und berät den Senat der Stadt in politischen Fragen.
Engagement mit Bundesverdienstkreuz gewürdigt
In Deutschland ist der 69-jährige Erdoğan als Gründer einer Selbsthilfegruppe für türkeistämmige Männer bekannt, und für dieses ehrenamtliche Engagement vielfach ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz. Ins Leben gerufen hat er die Männer- und Vätergruppe vor nunmehr 15 Jahren. Seitdem treffen sich nicht nur in Berlin, sondern inzwischen auch in einigen anderen deutschen Städten türkeistämmige und muslimische Männer zum Austausch.
Die Idee dazu, so Erdoğan, sei während seiner Tätigkeit als Schulpsychologe in Berlin entstanden. Auch während seiner Zeit bei der Familienberatungsstelle Neukölln sei ihm klar geworden, warum sich Männer aus türkisch-muslimischen Kontexten mit ihrer Rolle als Väter und Ehemänner auseinandersetzen sollten: „Ich wollte zur Verständigung beitragen, dazu, dass Männer sich mit den unreflektiert übernommenen Ehr- und Moralvorstellungen auseinandersetzen.“ Mit der Selbsthilfegruppe wolle er die Gewaltspirale gegen Frauen unterbrechen, in die Männer geraten, wenn sie keine anderen Möglichkeiten kennen und sehen, um mit Konflikten umzugehen. Männer sollten dafür sensibilisiert werden, ihre Verantwortung als Väter zu erkennen und wahrzunehmen. Die Teilnehmer sind zwischen 25 und 75 Jahren alt; manche kommen regelmäßig, manche sporadisch oder wenn sie ein konkretes Problem haben, über das sie sprechen möchten.
Erdoğan stammt aus der Provinz Sivas in Anatolien, seine Eltern waren Analphabeten und schickten ihren Sohn ins Internat, weil es im abgelegenen Heimatdorf keine Schule gab. Die Wahl seines Lebensthemas hat sicherlich auch etwas mit seiner Biografie zu tun. Er kennt die ungeschriebenen Gesetze einer patriarchalen Gesellschaft, weiß um Regeln, die befolgt werden, auch wenn man sie nicht gutheißt.
Fürs Studium nach Deutschland gekommen
Kazım Erdoğan wollte eigentlich gar nicht lange in Deutschland bleiben. Er kam zum Studieren und wäre beinahe abgeschoben worden, weil es Probleme mit seinem Aufenthaltsstatus gab. Doch der Beamte in der Ausländerbehörde zeigte sich einsichtig, sodass er bleiben und in Berlin Psychologie und Soziologie studieren konnte. Ein großes Glück für all die Menschen und Institutionen, die bis heute von seinem Engagement profitieren.
Er ist überzeugt davon, dass Kommunikation der Anfang von Veränderung ist. „Es gibt sehr viele Falschannahmen über türkeistämmige und muslimische Männer“, sagt er. Es stimme nicht, dass diese Männer verschlossen seien und einfach „ihr Ding durchziehen“. Wenn man den richtigen Ton treffe und um die passende Ansprache wisse, dann öffneten sie sich und erzählten von ihrer Not und den Zwängen, aus denen heraus sie gewalttätig würden. „Ich habe inzwischen etliche Männer dabei begleitet, sich mit ihren Kränkungen zu beschäftigen und darauf anders als mit Gewalt zu reagieren“, erzählt Erdoğan.
Gewalt als Reaktion auf Verzweiflung, Zurücksetzung und Kränkung, das führe nicht zur Lösung von Problemen, sondern zu einem fatalen Kreislauf. Das zu vermitteln, sei eines der Anliegen in den Gesprächen: „Ich arbeite nicht mit Schuldzuweisungen, sondern erkläre, dass die allermeisten Menschen das weitergeben, was sie gesehen, gelernt und gehört haben. Wer die Erfahrung gemacht hat, dass der Vater die Mutter geschlagen hat oder wer selbst geschlagen wurde, der gibt das weiter und wird eher gewalttätig als jemand, der in einem liebevolleren Elternhaus aufgewachsen ist.“
Kazım Erdoğan ist bekannt für seine freundliche, wohlwollende Art. Auch wenn er verstimmt ist, hat er eine ruhige, ja sogar beruhigende Stimme. Selbst wenn er im Gespräch von gekürzten Fördergeldern berichtet. So mussten zuletzt drei der Selbsthilfegruppen in Berlin aufgelöst werden. Dabei schwebt Erdoğan eigentlich das Gegenteil vor: der Ausbau des Angebots für türkeistämmige und muslimische Männer. Er sei derzeit in Gesprächen mit Verantwortlichen aus der Politik, damit in Berlin eine Koordinierungsstelle eingerichtet wird, die sich um den Aufbau weiterer Selbsthilfegruppen, etwa in Frankfurt am Main und anderen Städten, kümmert.