Alte Stärken neu entdeckt
Europa braucht eine Re-Industrialisierung, sagt auch Reinhard Bütikofer, Berichterstatter des EU-Parlaments.

Es ist nicht lange her, da schien der Dienstleistungssektor ein wahrer Heilsbringer zu sein. Er versprach mehr Jobs, größeres Wachstum, ein besseres Image, kurzum: Zukunft. Der Industrie dagegen haftete der Ruf der Rückständigkeit an. Man dachte an rauchende Schlote und an Massenbetriebe, die modernen Volkswirtschaften schlecht zu Gesicht stünden. Nicht erst mit der europäischen Wirtschafts- und Finanzkrise hat ein Umdenken eingesetzt, die schwierigen Jahre haben die Erkenntnis verstärkt: Europa, mahnt die EU-Kommission inzwischen, brauche ein gesundes verarbeitendes Gewerbe, weil ohne die Produktion auch der Dienstleistungsbereich nicht wachsen kann. Doch die Industrie in der EU ist bereits deutlich geschrumpft und schrumpft weiter. Die Kommission will gegensteuern und hat im Jahr 2012 eine Strategie zur Re-Industrialisierung aufgelegt. Bis 2020 soll der industrielle Anteil am Bruttoinlandsprodukt der EU auf 20 Prozent steigen. Für Reinhard Bütikofer, Mitglied des Europaparlaments und Berichterstatter zur Industriepolitik, eine wünschenswerte Entwicklung – unter bestimmten Voraussetzungen.
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Herr Bütikofer, es hieß immer, den Dienstleistungen gehöre die Zukunft. Gilt das plötzlich nicht mehr?
Das war immer falsch – genauso wie es falsch war, sich in einer irreführenden Diskussion von „new“ versus „old economy“ zu verlaufen. Produktions- und Dienstleistungswirtschaft sind heute immer stärker miteinander verknüpft. Manche sprechen sogar von „manu-services“. Es ist wichtig, die unterschiedlichen Wertschöpfungsketten in Europa zu erhalten – was da verlorengeht, ist nur schwer zurückzugewinnen.
Aber braucht Europa deshalb wirklich eine umfassende Re-Industrialisierung?
Europa braucht zunächst einmal eine gemeinsame Industriepolitik. Sie sollte eine Stärkung der Innovationskraft und der Wettbewerbsfähigkeit zum Ziel haben. Seit Beginn der Finanzkrise im Jahr 2008 hat Europa knapp zwölf Prozent des verarbeitenden Gewerbes verloren. In Portugal, Italien und Spanien ist die Industrie um 20 bis 30 Prozent eingebrochen. Deshalb kann man – nicht nur dort – durchaus von der Notwendigkeit einer Re-Industrialisierung sprechen.
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Der jüngste Wettbewerbsbericht der EU-Kommission gibt wenig Anlass zur Hoffnung, dass die Kehrtwende bereits eingeleitet ist. Der Anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt der Europäischen Union sank von 15,6 Prozent im Jahr 2011 auf 15,1 Prozent im Jahr 2012. Der Abstand zur Zielmarke von 20 Prozent vergrößert sich damit weiter. Die EU-Kommission hat vier Säulen einer effizienteren Industriepolitik benannt, mit der das Ziel dennoch erreicht werden soll: „Investitionen in Innovation“, „bessere Marktbedingungen“, „Zugang zu Finanzierungen und Kapital“, „Humanressourcen und Qualifikationen“.
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Wie kann die europäische Politik dazu beitragen, diese Säulen aufzubauen?
Kommission und Parlament haben nur begrenzte Möglichkeiten, selber Industriepolitik voranzutreiben. Auf die Mitgliedsstaaten kommt es an. Und auf die Regionen, in denen unter Ausnutzung aller europäischen Finanzierungsinstrumente eine differenzierte Cluster-Politik gemacht werden muss. Dabei kann die EU-Kommission sie unterstützen. Sie kann den Mitgliedsstaaten und Regionen helfen sich zu koordinieren und voneinander zu lernen. Sie kann mit ihren Forschungs- und Innovationsprogrammen Technologien vorantreiben. Sie muss neue Wege zur Finanzierung öffnen, vor allem für den Mittelstand. Sie muss den Binnenmarkt weiterentwickeln. Vor allem aber darf sie nicht durch verfehlte makroökonomische Politik und Haushalts-Geknausere daran gehindert werden, nachhaltiges Wachstum zu fördern.
Wenn nun plötzlich alle Länder in Europa industriell aufrüsten – wäre das für die Wettbewerbsfähigkeit der EU insgesamt nicht eher nachteilig?
Wenn Europa sich vernünftig koordiniert, dann nicht – ansonsten schon. Jeder für sich und alle gegen alle, das geht nach hinten los. Europa muss darauf hinarbeiten, dass erfolgreiche Zweige gesichert, ausgebaut und erneuert werden, dass sich die Regionen spezialisieren und Symbiosen schaffen. Damit würde Europa insgesamt gewinnen.
In Europa gibt es in der Industriepolitik viele unterschiedliche Ansätze, die zum Teil aus langen wirtschaftspolitischen Traditionen erwachsen sind. Wie kann man diese Ansätze vereinen?
Ich plädiere für eine ökologisch aufgeklärte Ordnungspolitik. Das stößt bei manchem wegen der Ökologie auf Widerstand und bei anderen wegen der Ordnungspolitik. Wir sollten jedoch nicht nach theoretischen Siegen streben, sondern nach praktischen Erfolgen. Wir brauchen vor allem die richtigen Governance-Strukturen und die bessere Nutzung vorhandener Instrumente.
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Nicht zuletzt wegen der verschiedenen wirtschaftspolitischen Philosophien ist die Industrie in den einzelnen europäischen Ländern unterschiedlich stark vertreten. In einigen Staaten ist ihr Anteil an der Gesamtwirtschaft traditionell niedrig, in anderen hat die Krise den Sektor weiter verkleinert. Laut des EU-Wettbewerbsberichts 2013 macht das verarbeitende Gewerbe beispielsweise in Frankreich, Großbritannien und Griechenland rund zehn Prozent, in Tschechien fast 25 Prozent und in Deutschland etwa 22 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.
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Deutschland hat die von der EU angepeilten 20 Prozent Industrie-Anteil bereits erreicht. Besteht also kein Grund, das deutsche Modell zu überdenken?
Thomas Edison sagte, es gäbe immer einen Weg, es besser zu machen. Das gilt auch für Deutschland und die Industrie. Wir nutzen unter anderem die Chancen der digitalen Vernetzung nicht genügend. Innovation ist eine Stärke der deutschen Wirtschaft, allerdings sind wir schwach im Bereich der sogenannten „disruptiven Innovation“, die mit völlig neuen Produkten, Technologien oder Geschäftsmodellen den Status quo in einem bestimmten industriellen Sektor aufmischt.
In welchen Branchen sehen Sie in einem stärker industriell geprägten Europa Chancen für Deutschland?
Die industrielle Revolution, vor der wir stehen, bietet Möglichkeiten für fast alle Branchen. Natürlich sollten wir in Deutschland vorhandene Stärken stärken. Ich sehe große Chancen für den Mobilitätssektor, für eine immer grünere Chemie, für den Maschinen- und Anlagenbau, für einen offensiven Energiesektor. Selbst die Grundstoffindustrie hat in diesem Konzept Chancen. Ergreifen müssen sie die Unternehmen.
Entspricht die heutige Ausbildung einer Industrie der Zukunft?
Man kann gar nicht überschätzen, wie sehr die mittelständischen „Hidden Champions“ von der Qualifikation ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer profitieren. Europa läuft jedoch auf eine Ingenieurslücke zu und braucht mehr Studierende in den „MINT“-Fächern, in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Zudem bin ich dafür, das duale Ausbildungssystem auszubauen – auch weil die Volkswirtschaften mit solchen Systemen sich als krisenfester erwiesen haben. ▪