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Droht ein Kulturwandel?

Die Wahlen zum Europäischen Parlament Ende Mai 2014 können zur Richtungswahl werden.

Josef Janning, 06.03.2014
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picture-alliance/dpa - European election © picture-alliance/dpa - European election

Zum achten Mal bestimmen die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union (EU) Ende Mai 2014 die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments (EP) in direkter Wahl. Rolle und Einfluss des Parlaments sind seit seiner ersten Direktwahl 1979 erheblich gewachsen; die Abgeordneten sind heute einer der beiden Pfeiler der EU-Gesetzgebung, gegen ihr Votum können die meisten Rechtsakte der EU, der Haushalt, die Aufnahme neuer Mitglieder oder internationale Verträge nicht in Kraft treten. Der Slogan „Handeln, Mitmachen, Bewegen“, mit dem das Parlament seit geraumer Zeit für die Wahl wirbt, soll deutlich machen, dass das Parlament zu einer einflussreichen Volksvertretung herangewachsen ist. Die Wahlentscheidung 2014 ist daher von größerem Gewicht als je zuvor – ob die Bürgerinnen und Bürger entsprechenden Gebrauch von ihrem Wahlrecht machen, steht dahin: Bisher lag die Beteiligung an der Europawahl immer deutlich unter der nationaler Wahlgänge.

Dieses Missverhältnis rührt aus einer Reihe von Besonderheiten des EU-Parlaments. An seinem Gewicht gemessen führt es eher ein Schattendasein. Selten prägen seine Debatten die öffentliche Diskussion über Europa; die Gestaltungsrolle der Parlamentarier ist den Menschen zumeist nicht bekannt. Aufmerksamkeit erzielt mitunter die Weigerung des Parlaments, Verträge zu ratifizieren (wie das „Open Skies“-Abkommen zum transatlantischen Luftverkehr 2007 oder das ACTA-Abkommen gegen Produktpiraterie 2012), oder die Verabschiedung des Haushalts der EU zu blockieren wie zuletzt 2013. Das Recht, eigene Gesetzentwürfe einzubringen, besitzt das EU-Parlament im Unterschied zu den nationalen Parlamenten allerdings ebenso wenig wie die Budgethoheit. Seine Mehrheit trägt auch keine Regierung, denn die Europäische Kommission ist trotz ihrer fortschreitenden Politisierung eine Behörde mit dem Privileg der Gesetzesinitiative – dem Parlament fehlt die vereinfachende Teilung in Regierungsfraktion und Opposition.

Das Europäische Parlament ist nicht einfach zu verstehen für die rund 375 Millionen Wahlberechtigten. Gäbe es nicht die derzeit acht politischen Gruppen, von denen sich sieben jeweils zu einer Fraktion zusammengeschlossen haben, ginge angesichts von mehr als 150 Parteien im EP jede Übersicht verloren. Die Gruppen bilden im Ungefähren die großen politischen Familien in den meisten Mitgliedsstaaten ab, an ihren Benennungen ist dies jedoch nicht gleich zu erkennen. Dies dürfte sich mit diesem Jahr ändern: Zum ersten Mal treten die Parteigruppierungen mit europaweiten Spitzenkandidaten an. Für die Sozialdemokraten wird dies der derzeitige Präsident des EU-Parlaments, der Deutsche Martin Schulz, sein. Für die Europäische Volkspartei wirbt ­Luxemburgs langjähriger Regierungschef Jean-Claude Juncker, die europäischen Liberalen ALDE ziehen mit dem früheren belgischen Regierungschef Guy Verhofstadt und dem EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung Olli Rehn als Spitzenkandidaten in die Europawahlen. Die Grünen setzen auf die Deutsche Ska Keller und den Franzosen José Bové. Hintergrund dieser Personalisierung ist die Bestimmung des Vertrags von Lissabon, nach der sich die Regierungschefs bei ihrem Vorschlag für den künftigen Präsidenten der EU-Kommission an den Ergebnissen der Wahlen zum Europäischen Parlament orientieren sollen.

Die deutschen Parteien gehen überwiegend mit einer eindeutig proeuropäischen Botschaft in den Wahlkampf. Sozialdemokraten und Christdemokraten, Grüne und Liberale sprechen sich in ihren Wahlprogrammen für eine Fortsetzung der bisherigen Integration und eine starke Europäische Union aus, Schritte zu „mehr Europa“ sollen möglich bleiben. Die Unterschiede zwischen ihnen liegen in Einzelfragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik, der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Europa und den Themen Gerechtigkeit oder Regelungsdichte auf europäischer Ebene. Demgegenüber unterstreicht „Die Linke“ ihre Ablehnung der Euro-Rettungspolitik; die „Alternative für Deutschland“ betont ihre Ablehnung der gemeinsamen Währung und wirbt für einen Rückzug der EU auf den gemeinsamen Markt.

751 Sitze werden mit der Wahl vergeben, nach dem Vertrag von Lissabon weniger als bisher, da der Charakter eines „Arbeitsparlaments“ mit den Erweiterungen der EU nicht verloren gehen soll. Aus Deutschland werden deshalb mit 96 Abgeordneten drei weniger kommen als gegenwärtig. Weil die Wahl auf der Basis nationaler Wahlgesetze stattfindet, unterscheidet sich der Wahlmodus wie der Wahltag in verschiedenen Mitgliedsstaaten. Gravierender für die Akzeptanz des Parlaments wirkt die „degressive Proportionalität“ der Sitzzuordnung. Sie bevorzugt die Vertretung kleinerer EU-Staaten und entspricht damit der Stimmgewichtung im Ministerrat der EU. Im Ergebnis kommt in Frankreich, Deutschland oder Italien auf etwa 850 000 Einwohner ein Abgeordneter; in Dänemark, Finnland oder Irland sind es schon zwei, in Estland vier, in Luxemburg oder Malta zehn. Während eine Mindestsitzzahl unter demokratiepolitischen Gesichtspunkten unstreitig sein dürfte, erscheint die Ungleichgewichtung der Wählerstimmen problematisch.

Diese Frage wird jedoch nicht im Zentrum des Europa-Wahlkampfs stehen. Bedeutsamer werden die unterschiedlichen Interpretationen der Finanz- und Schuldenkrise in der EU und die daraus abgeleiteten Ansprüche und Ziele wirken. Zudem hat sich über die Frage der Zuwanderung und Binnenmigration in der EU eine neue Konfliktlinie aufgetan, welche die öffentliche Meinung polarisiert. Nahezu überall sind EU-skeptische oder rechtspopulistische Strömungen und Parteien entstanden und gewachsen, die bereits jetzt viele Debatten mitbestimmen. Das Gewicht der Krise und die einfachen Erklärungen vieler Europakritiker werden einen Kulturwandel im nächsten EP auslösen; vieles spricht dafür, dass in der kommenden Legislaturperiode mehr Kritiker im Parlament Platz nehmen werden als je zuvor.

Für die Arbeit des EP bedeutet dies eine neue Herausforderung: Die Mehrheitsfindung wird schwieriger werden und vielleicht eine noch engere Zusammenarbeit zwischen den großen Fraktionen der Europäischen Volkspartei und der Sozialdemokraten erzwingen. Das künftige Parlament wird sich wohl nicht mehr als Gralshüter der Idee Europas gegen die einzelstaatlichen Interessen präsentieren können; zu viele seiner Mitglieder wollen offenbar nicht mehr, sondern weniger Europa, wollen nicht mehr Handlungsfähigkeit auf europäischer Ebene, sondern diese zugunsten der nationalen Politik und Parlamente beschneiden. Die Befürworter der Integration werden bessere Argumente finden müssen. Wenn es darüber gelingt, das Plenum zu einem Ort lebendiger Debatten zu machen, an dem die Erwartungen und Sorgen der Bürger zusammenkommen, muss dies kein Nachteil für Europa sein. ▪

Der Europaexperte Josef Janning ist Mercator-Fellow des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin.