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Ein zerrissener Kontinent findet zu sich selbst

Markus Meckel, Mitgestalter der deutschen Einheit, plädiert für eine europäische Erinnerungskultur.

Markus Meckel, 12.06.2014
© picture-alliance/ZB - Markus Meckel

Nachdem der Erste Weltkrieg in Deutschland lange weitgehend im Schatten des Zweiten Weltkriegs stand und kaum Thema war, bricht nun zum 100. Jahrestag seines Beginns zunehmend eine Fülle von Veranstaltungen und Debatten über uns herein. Dabei fällt auf, dass diese sich vor allem auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges beziehen, das in diesem Jahr viel gelesene und diskutierte Buch des australischen Historikers Christopher Clark „Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ gibt gewissermaßen den Takt vor.

Neben der eigentümlichen Beschränkung auf die Julikrise des Jahres 1914 und den Weltkriegsbeginn am 1. August jenes Jahres bleibt weitgehend aus dem Blickfeld, dass der Erste Weltkrieg nicht nur im Westen stattgefunden hat, sondern ebenso – und zum Teil in einer ganz anderen Weise – auch im Osten des europäischen Kontinents. Bisher kommt wenig zur Sprache, welche Folgen diese „Urkatastrophe“ für das ganze 
20. Jahrhundert als Zeitalter der Extreme und Gewalt hatte. Dabei lassen sich vom Ersten Weltkrieg aus lange Linien durch das ganze letzte Jahrhundert ziehen, die gleichzeitig bis in die Gegenwart reichen. Ohne diesen Krieg hätte es die sogenannte Oktoberrevolution in Russland 1917 so nicht gegeben; und Hitler hätte ohne ihn und seine Folgen nach dem Versailler Friedensvertrag vermutlich nicht die Anhängerschaft gefunden, die den Terror des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg ermöglichten.

Mit Blick auf den Ersten Weltkrieg ist heute viel zu lernen. Wir sehen im Vorkriegs­europa eine über den ganzen Kontinent verteilte zivile Gesellschaft, die sich für den Frieden einsetzt – aber gleichzeitig zu schwach ist, im entscheidenden Moment politisch wirksam zu sein und auch nur die nationalen öffentlichen Diskurse zu erreichen. Die Politik versagt, die Militärs entscheiden.

Mit dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten von Amerika 1917 gelangt die Demokratiefrage auf die Tagesordnung Europas. 1920 wird der Völkerbund gegründet – internationales Recht institutionell verankert, doch vorerst viel zu schwach. Nach dem Ersten Weltkrieg jedoch verlassen die Amerikaner Europa. Diesen Fehler werden sie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wiederholen – das transatlantische Verhältnis wird in der gesamten Nachkriegsphase zu einer Schicksalsfrage für Europa. Mit den 1945 gegründeten Vereinten Nationen gibt es nach dem Zweiten Weltkrieg mehr Erfolge – und doch bleibt ihre weitere Ausgestaltung bis heute eine Herausforderung.

Am Ersten Weltkrieg kann man auch lernen, wie man nicht Frieden schließen darf. Zuerst gilt das für den Separatfrieden von Brest-Litowsk im Osten, der im Februar 1918 zwischen Sowjetrussland und den sogenannten Mittelmächten Deutschland, Österreich-Ungarn, Türkei und Bulgarien geschlossen wurde – und nach dem gleichen Muster dann für den Friedensvertrag von Versailles 1919. Der von Deutschland als Demütigung empfundene Versailler Vertrag mit der deutschen Alleinschuldthese schuf die Grundlagen für Hitlers Akzeptanz in breiten Kreisen der deutschen Bevölkerung. Der Trianon-Vertrag ist bis heute ein unverarbeitetes ungarisches Trauma, das bei den Nachbarn Ungarns bis in die Gegenwart zu Beunruhigungen führt.

Der Zweite Weltkrieg wiederum begann vor 75 Jahren, kurz nach dem zuvor geschlossenen Hitler-Stalin-Pakt, der für unsere östlichen Nachbarn – mehr als uns weithin bewusst ist – wesentlich mit zu ihren Erfahrungen gehört, rückten doch nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 am 17. September die sowjetischen Truppen vom Osten her in Polen ein, führten mit Finnland Krieg und besetzten 1940 die baltischen Staaten, aus denen sie große Teile der Bevölkerung deportierten.

Diese bis heute im Westen wenig bekannte Geschichte relativiert in keiner Weise die deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges in ganz Europa, besonders in seinem Osten. Doch macht sie deutlich, dass wir in Deutschland und Europa unsere eigene Erinnerungs- und Gedenkkultur für die Erfahrungen unserer Partner und Mitglieder im Osten öffnen müssen. Es ist von großer Bedeutung für ganz Europa, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, ihr Erleben, ihre Traumata zur Kenntnis und ernst zu nehmen und in einen europäischen Diskurs einzuzeichnen. Gerade die gegenwärtigen Ereignisse in der Ukraine rufen dort Erinnerungen wach und führen zu Reaktionen, die mit dieser Geschichte verbunden sind und von uns allen ernst genommen werden müssen.

1945 wurden wir Deutschen und ganz Europa von den Alliierten vom Nationalsozialismus befreit. Auch wenn die Mehrheit der Deutschen dies damals eher als Zusammenbruch empfand, ist es heute in Deutschland anerkannt, dass wir allen Grund haben, den damaligen Kriegsgegnern dafür dankbar zu sein – auch den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die den größten Blutzoll dafür zahlten. Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, dass dieser Befreiung in der östlichen Hälfte Europas nicht Freiheit und Demokratie folgten wie im Westen, sondern bis 1989 eine kommunistische Diktatur. Es wird für die Feiern zum 70. Jahrestag der Befreiung im Jahr 2015 von größter Bedeutung sein, diese Dimension nicht zu vergessen.

Bis heute wird das Jahr 1989 in der europäischen Erinnerungskultur zu wenig beachtet, obwohl es für einen großen Teil des europäischen Kontinents eine ähnliche Bedeutung hat wie das Jahr 1945 für den Westen. Europa ist insofern erinnerungspolitisch nach wie vor stark gespalten. Gerade für uns Deutsche, die in beiden Erfahrungen verwurzelt sind, sollte es eine Herausforderung sein, diese verschiedenen Traditionen miteinander zu verbinden und uns auf europäischer Ebene ebenso dafür einzusetzen.

Im November 2014 jährt sich der Mauerfall zum 
25. Male. Die Erinnerung an zurückliegende Gedenkfeiern zum Mauerfall veranlasst mich, darauf hinzuweisen, dass bei allen Feierlichkeiten zu diesem Anlass, wenn wir die historischen Zusammenhänge ernst nehmen, unsere Nachbarn und Partner in der mitteleuropäischen Revolution von 1989 – Polen, Ungarn, Tschechen und Slowaken – unsere hervorgehobenen Gäste sein sollten. Die Mauer fiel in der Friedlichen Revolution durch den Ansturm der Massen; die Friedliche Revolution in Deutschland aber ist Teil eines größeren friedlichen historischen Umbruchprozesses in Mitteleuropa – der Mauerfall am 9. November 1989 in Berlin symbolisiert den Sieg dieser mitteleuropäischen Revolution. Die ehemaligen Alliierten und alle weiteren Nachbarn in Europa sind natürlich ebenso willkommen – aber die Mitteleuropäer müssen gewissermaßen als Teilnehmer dieser Revolution die geborenen Gäste sein! Leider wurde das in der Vergangenheit nicht immer beachtet. Der Sieg der Freiheit stieß das Tor zur deutschen Einheit auf, die dann mit den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs verhandelt werden musste.

Die Rolle der früheren Alliierten in diesem Prozess wird zum 25. Jahrestag 
der deutschen Einheit am 3. Oktober 2015 besonders gewürdigt werden. Erst der erfolgreiche Abschluss der damaligen Zwei-plus-Vier-Verhandlungen ebnete den Weg zur staatlichen Einheit Deutschlands. Die Siegermächte waren es, die die Souveränität des geeinten Deutschland akzeptierten. Gleichwohl sollten wir Deutschen 2015 nicht wie bisher vergessen, dass an der Seite der Alliierten im Zweiten Weltkrieg an vielen Fronten auch Polen kämpften und uns befreiten. Auf der Potsdamer Konferenz, die kurz nach Kriegsende 1945 die politische und geografische Neuordnung Deutschlands regelte, trafen sich nur die Sowjets, Amerikaner und Briten – doch die westlichen Alliierten bezogen dann die Franzosen mit ein, die unter Charles de Gaulle an diesem Kampf teilgenommen hatten. Im Osten verhinderte Stalin ebensolches für die Polen. Wir sollten heute, 70 Jahre später, diesen polnischen Beitrag zu unserer Befreiung nicht weiterhin vergessen, sondern dadurch würdigen, dass sie 2015 zu allen Veranstaltungen mit den ehemaligen Alliierten mit eingeladen werden.

Die deutsche Erinnerungs- und Gedenkkultur ist bis heute noch sehr aufgespalten und wenig integrativ. Da denken die einen vor allem an den Nationalsozialismus oder nur an den Holocaust. Andere gedenken besonders der Vertreibungen, wobei deren Ursachen und Hintergründe nicht immer mitbedacht sind. Die kommunistische Diktatur wird allzu oft nur als östliche/ostdeutsche Regionalgeschichte angesehen – und nicht als ein alle betreffender Teil der deutschen und europäischen Nachkriegsgeschichte. Der Kalte Krieg wird zu wenig in seinen internationalen Dimensionen wahrgenommen. Die beiden Weltkriege werden in Deutschland immer weniger bedacht; ihre tiefgehenden Erfahrungen und Folgen treten im öffentlichen Gedenken oft hinter die Diktaturerfahrungen des Nationalsozialismus und den Gräueltaten des Holocaust zurück. Das Zusammenfallen so vieler für das 20. Jahrhundert wichtiger Jahrestage in diesem und im kommenden Jahr sollte für uns eine Herausforderung sein, die verschiedenen historischen Ereignisse stärker in ihren Zusammenhängen in den Blick zu nehmen. Hierin sehe ich auch eine Aufgabe für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen, die sich dem öffentlichen Gedenken widmen, dazu beitragen sollte, mehr als bisher üblich die Verwobenheit dieser verschiedenen Dimensionen des 20. Jahrhunderts ins öffentliche und gesellschaftliche Bewusstsein zu bringen.

Gerade angesichts der aktuellen europapolitischen Diskussionen ist es wichtig, deutlich zu machen, dass die Europäische Union gewissermaßen die Gestalt gewordene Lehre aus den Schrecken der Kriege der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts ist. Vor 100 Jahren galten Kriege noch als normales Mittel zur Fortsetzung nationaler Interessenpolitik. Heute wissen wir, dass Frieden nicht auf dem Recht des Stärkeren, sondern auf der Stärke des Rechts beruht, auf dem friedlichen Ausgleich der Interessen und durch starke internationale Institu­tionen gestärkt wird.

Der Erste Weltkrieg kann uns zeigen, wohin wir nicht wieder zurückfallen dürfen. Insofern ist viel von ihm zu lernen. Es ist gut, wenn dieses Lernen nicht nur in nationalen Diskursen geschieht, sondern in europäischen. Deshalb bin ich froh, dass das Europäische Parlament die Anregung aufgenommen hat, in diesem Frühjahr über den Ersten Weltkrieg und seine Folgen diskutierte und dass der Deutsche Bundestag am 3. Juli 2014 eine Gedenkstunde zum Ersten Weltkrieg plant, bei der Alfred Grosser als Redner eingeladen ist. So beginnt ein Diskurs, den wir dringend brauchen. Am Ende des Ersten Weltkrieges zerfielen große Reiche, neue Nationalstaaten entstanden (wieder). Es wird wichtig sein, vor 2018 einen europäischen Diskurs des Gedenkens an den Ersten Weltkrieg zu etablieren, der verhindert, dass wir dann einen Rückfall in allein nationales Gedenken erleben. ■

MARKUS MECKEL

war einer der führenden Bürgerrechtler der Friedlichen Revolution 1989. Nach der ersten freien Wahl in der DDR im Frühjahr 1990 war er als Außenminister gemeinsam mit Hans-Dietrich Genscher einer der Vertreter der beiden deutschen Staaten bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen mit den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, die den Weg zur Deutschen Einheit ebneten. Von 1990 bis 2009 war der Sozialdemokrat Mitglied des Deutschen Bundestages; heute ist Markus Meckel u. a. Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge.