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„Es ist essenziell, Brücken zu erhalten“

Matthias Platzeck, der neue Vorstandsvorsitzende des Deutsch-Russischen Forums, über Dialog in Krisenzeiten.

01.08.2014
© Stefan Maria Rother - Matthias Platzeck

Herr Platzeck, Sie sind in einer Zeit Vorstandsvorsitzender des Deutsch-Russischen Forums, in der die Beziehungen beider Länder durch die Krise in der Ukraine belastet werden. Was sehen Sie als Aufgabe des Deutsch-Russischen Forums in dieser Situation?

Das Deutsch-Russische Forum war noch nie so wertvoll wie heute. In einer Situation wie der gegenwärtigen, unter der die Beziehungen Deutschlands und Russlands deutlich leiden, ist es essenziell, dass Brücken erhalten bleiben, dass man ergründet, warum sich der andere wie verhält. Bei mir gilt ganz grundsätzlich: Auch wenn ich Verhalten für falsch halte, muss ich nach den Ursachen fragen. Um des Verstehens willen! Und in besagtem Fall gibt es dazu noch ganz praktische Gründe: Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung hängt auch von guten Beziehungen mit Russland ab. Und eine funktionierende, zukunftsfähige Sicherheitsarchitektur in Europa ist ohne Russland nicht möglich. Meine feste Überzeugung ist auch, dass Russland grundsätzlich zu Europa gehört. Ich werde jedenfalls meinen Beitrag zur Brückenbildung leisten – gerade jetzt, in schwierigen Zeiten.

Auf welche Formate des Austauschs setzt das Deutsch-Russische Forum?

Auf eine Vielfalt der Begegnungsmöglichkeiten: Thematisch sind wir in den Gebieten Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur aktiv. Vielfalt finden Sie auch im Altersspektrum unserer Zielgruppen: Unsere Aktivitäten reichen von Wirtschaftstagen über „Young Leader“-Seminare bis zu Märchentagen für Kinder. Wir feiern das Jahr der russischen Sprache in Deutschland ebenso wie das Jahr der deutschen Sprache in Russland. Bei den philosophisch geprägten Debatten der Potsdamer Begegnungen wurden zuletzt Fragen nach der Ausgestaltung der Demokratie, nach unterschiedlichen Sichtweisen aufgrund unterschiedlicher Prägungen behandelt. Das Deutsch-Russische Forum zeichnet aus, dass es Foren anbietet, die solchen, auch kontroversen Austausch ermöglichen.

Was ist Ihr Eindruck von den Bemühungen der Bundesregierung, zu einer Lösung der Ukraine-Krise beizutragen?

Ich habe großen Respekt vor der Herangehensweise der Bundesregierung, der Bundeskanzlerin, des Bundesaußenministers. Es ist im Moment nicht einfach, Weitblick und Geduld zu bewahren und natürlich auch mit Rückschlägen umzugehen. Friedenssicherung ist ein dickes Brett, das gebohrt werden muss. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier muss ja nicht nur zwischen der russischen und der ukrainischen Seite, sondern auch zwischen den 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union vermitteln. Das ist nicht nur eine große Kraftanstrengung, sondern auch eine riesige intellektuelle Herausforderung. Mein Eindruck ist, auch aus Gesprächen vor Kurzem in Moskau, dass Frank-Walter Steinmeier als die führende außenpolitische Stimme in Europa wahrgenommen wird. Ich finde seine Herangehensweise richtig und gut, Gesichtswahrung für alle Beteiligten anzustreben, dabei den Bestand der Ukraine zu sichern und den Frieden auf ein vernünftiges Fundament zu stellen.

Was lässt Sie hoffen, dass Russland auch in Krisenzeiten Interesse an einem Dialog mit Deutschland hat?

Ich glaube, es gibt in Russland genügend klar abwägende Menschen mit wirtschaftlichem Sachverstand, die das Naheliegende sehen: Russland hat die Modernisierung seiner gesamten Volkswirtschaft noch vor sich. Hierfür sind Deutschland und Europa die mit Abstand besten Partner; solche Impulse werden nicht aus China kommen. Deutschland hat bei allen Schwierigkeiten einen exzellenten Ruf in Russland. Es gibt eine tiefe europäische Verwurzelung im größten Land der Erde. Die hat nicht alle ergriffen, aber sie ist weiterhin prägend, auch für Präsident Putin. Wir müssen aber auch konstatieren, dass Russland ein europäisches Land mit einer besonderen Prägung ist. So ist die russisch-orthodoxe Kirche eine andere abendländische Kirche, als die, die wir in Deutschland kennen; das ist auch mit anderen Denkhaltungen verbunden. Ich akzeptiere und respektiere das, sage aber auch unseren russischen Freunden: Es gibt einen Katalog von Grundrechten, der unabhängig ist von russisch-orthodoxem, evangelischem oder katholischem Glauben, sondern eine Mindestgarantie, auf die wir uns in den Vereinten Nationen geeinigt haben.

Wie bewerten Sie den Stand der Bürgerrechte in Russland?

Manche der gesetzlichen Maßnahmen der letzten Jahre halte ich für kontraproduktiv auf dem Weg in eine zukunftsfähige Gesellschaft. Ich bin überzeugt von der Theorie des amerikanischen Ökonomen Richard Florida; ich nenne sie 3-T-Theorie: Talente, Technologie und Toleranz. Wenn eine Gesellschaft Zukunft haben will, braucht sie dringend zukunftsfähige Technologien. Die bekommt man nur mit vielen Talenten, die man fördert und die immer wieder Innovationen generieren. Diese Talente können sich aber nur umfassend entfalten, wenn es in der Gesellschaft Toleranz gibt. Die NGO-Gesetzgebung in Russland, die in Gesetzesform gegossene Homophobie – das hemmt die Grundrichtung einer offenen und zukunftsfähigen Gesellschaft. Darüber müssen wir miteinander reden. Dazu gehört aber auch immer, nach den Beweggründen des Gegenübers zu fragen. Ich weiß, ich wiederhole mich.

Der ein oder andere nennt Sie einen „Russland-Versteher“. Was sagen Sie dazu?

Ich bin in Potsdam an der Glienicker Brücke aufgewachsen, russische Soldaten waren unsere Nachbarn, russisches Benzin lag in der Luft; das prägt natürlich – wie auch manche Russland gegenüber besonders aufgeschlossene Lehrerin. Ich verhehle überhaupt nicht, dass ich russophil bin: Ich habe viel übrig für die russische Kultur. Wir sollten auch nicht vergessen, was Russen von Deutschen im Zweiten Weltkrieg erleiden mussten und welche riesigen Leistungen sie nach unserer Befreiung erbracht haben: Sie haben uns trotz weit über 20 Millionen Toten Versöhnung und Vergebung angeboten. Es gehört zu meinem Geschichtsverständnis, dass das nicht in Vergessenheit gerät. ▪

Das Interview mit Matthias Platzeck führte „DE“-Redakteur Johannes Göbel Ende Juni 2014 in Potsdam.

 

Das Deutsch-Russische Forum
Das 1993 gegründete Deutsch-Russische Forum e.V. nennt als sein vorrangiges Ziel „das gegenseitige Verständnis von Russen und Deutschen zu fördern, Menschen zu verbinden und Kontakte zu pflegen“. Der Verein steht Mitgliedern aus allen Bereichen der Gesellschaft offen, wird aber insbesondere von Persönlichkeiten der deutschen Wirtschaft geprägt. Seit 2007 ist die Mitgliedschaft auch russischen Staatsbürgern möglich. Die Geschäftsstelle der deutschen Seite des Petersburger Dialogs wird in Zusammenarbeit mit dem Deutsch-Russischen Forum geführt. An der Spitze des Deutsch-Russischen Forums steht seit März 2014 Matthias Platzeck, von 2002 bis 2013 Ministerpräsident des Landes Brandenburg und ehemaliger Bundesvorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD).