Ein Baustein für neue Perspektiven
Die Bundesregierung engagiert sich für Flüchtlinge in der Türkei.

Nach Angaben der Vereinten Nationen sind derzeit ca. 2,3 Millionen Flüchtlinge in der Türkei registriert. Deutschland – als weltweit drittgrößter Geber humanitärer Hilfe – ist auch in der Türkei stark engagiert. Das Auswärtige Amt koordiniert und finanziert die humanitären Hilfsleistungen der Bundesregierung. Nahrungsmittel, medizinische Versorgung und Winterhilfe sichern die Grundbedürfnisse der notleidenden Menschen. Dabei werden verstärkt innovative Instrumente der humanitären Hilfe angewandt: Cash-Programme ermöglichen den Hilfsempfängern eine passgenaue Deckung ihrer Grundbedürfnisse.
Deutschlands Beitrag für syrische Flüchtlinge in der Türkei aus Mitteln der humanitären Hilfe beläuft sich seit 2012 auf mehr als 70 Millionen Euro, davon allein 2015 rund 35 Millionen Euro. Neben den Hilfsmaßnahmen des Welternährungsprogramms und des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen werden durch das Auswärtige Amt auch Projekte der Rotkreuz-/Rothalbmondbewegung und deutscher sowie internationaler Nichtregierungsorganisationen gefördert. Insgesamt hat das Auswärtige Amt im Rahmen der Syrien-Krise seit 2012 Projekte in Höhe von mehr als 600 Millionen Euro finanziert.
Wenn syrische Flüchtlingskinder an die Schule denken, dann denken sie häufig an einen Ort, den sie schon lange nicht mehr gesehen haben. Von den in der Türkei registrierten Flüchtlingskindern sind 700 000 Mädchen und Jungen im Schulalter. Jedoch kann in den türkischen Aufnahmegemeinden nur etwa ein Fünftel von ihnen in die Schule gehen. Zwar hat die türkische Regierung das öffentliche Schulsystem für syrische Flüchtlinge geöffnet. An einigen staatlichen Schulen gibt es mittlerweile ein Zweischichten-System, bei dem Lehrer nachmittags Flüchtlinge unterrichten. Doch reicht das Angebot nicht aus.
In Aufnahmegemeinden der Provinz Gaziantep in Südostanatolien haben nun viele Kinder neue Hoffnung: Durch ein Bildungsprogramm werden Mädchen und Jungen an vier staatlichen Grund- und Sekundarschulen zusätzlichen Sprach- und Förderunterricht erhalten. Traumatisierte Flüchtlingskinder bekommen zudem psychosoziale Unterstützung. Mit Geldern des Bildungsprogramms werden neue Möbel gekauft und Fortbildungen für Lehrer finanziert. 1500 syrische und 2000 türkische Kinder profitieren davon. Zudem werden im Rahmen des Programms Sport-, Musik- und Kulturveranstaltungen stattfinden, um die Flüchtlinge und die einheimische Bevölkerung zusammenzubringen.
Das Bildungsprogramm ist ein Beispiel, das zeigt, wie Flüchtlinge neue Perspektiven für ein selbstbestimmtes Leben bekommen können. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) unterstützt es im Rahmen der Sonderinitiative „Fluchtursachen bekämpfen – Flüchtlinge reintegrieren“. 1,4 Millionen Euro fließen von Seiten des BMZ in das Projekt. Insgesamt unterstützt die Sonderinitiative des Ministeriums Menschen in 19 Ländern und fördert auch mehrere überregionale Projekte. Neben der Türkei werden beispielsweise auch der Irak, Ägypten, der Libanon und Jordanien von den Hilfsmaßnahmen berücksichtigt. Insgesamt stehen 330 Millionen Euro für die Sonderinitiative zur Verfügung, die 2014 startete. Bis zu fünf Jahre laufen die einzelnen Projekte.
„Mit der Sonderinitiative Flüchtlinge will das BMZ dazu beitragen, dass Konflikte erst gar nicht entstehen, eskalieren und Menschen zur Flucht zwingen“, erklärt eine Sprecherin des Ministeriums. „Gleichzeitig will es helfen, die negativen Auswirkungen von Flüchtlingsbewegungen für alle Beteiligten abzumildern.“ Ziel ist es, zusammen mit Partnern die Fluchtursachen zu bekämpfen und die Aufnahmeregionen zu stabilisieren. Außerdem soll die Initiative dazu beitragen, die Menschen in der neuen Heimat zu integrieren oder ihnen zu helfen, in ihrer alten Heimat wieder Fuß zu fassen.
Projekte in unterschiedlichen Bereichen sind gestartet, um diese Ziele zu erreichen: Bildungsangebote für Männer und Frauen, die sich weiterqualifizieren wollen, zählen dazu, ebenso die Verbesserung von Wasser- und Gesundheitsversorgung und das Angebot psychologischer Hilfe. Hinzu kommen auch Friedens- und Versöhnungsprojekte.
In der Türkei nehmen wiederum mindestens 800 Jugendliche an Workshops zur Berufsorientierung und berufsbildenden Kursen teil. Im Irak erhalten 3000 Kinder Zugang zu psychosozialer Unterstützung und kinderfreundlichen Räumen. Hier finanziert die Initiative zudem den Wiederaufbau und die Ausstattung von 35 Einrichtungen wie Schulen und Gesundheitszentren.
Die Sonderinitiative ist vor dem Hintergrund der steigenden Flüchtlingszahlen entstanden: Weltweit sind derzeit rund 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Sie verlassen ihre Heimat, weil Krieg herrscht, weil sie verfolgt oder unterdrückt werden. Sie fliehen vor Gewalt oder den Folgen des Klimawandels. Neun von zehn Flüchtlingen leben in einem Entwicklungsland.
Diese Aufnahmeregionen benötigen Unterstützung, betont Steffen Angenendt, Migrationsforscher bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Es gibt dort häufig zu wenig Schulen, keine gute Gesundheitsversorgung und keine funktionierende Verwaltung“, so Angenendt. Oft blieben die Flüchtlinge längere Zeit in diesen Regionen. „Ihnen muss deshalb vor Ort eine Perspektive aufgezeigt werden.“ Sonst würden sie wieder aufbrechen. „Die Migrationsforschung zeigt: Wer bereits einmal geflohen ist, der ist eher bereit, sich wieder auf den Weg zu machen“, sagt der Wissenschaftler.
Insbesondere das Engagement im Bildungsbereich zahle sich aus, unterstreicht Angenendt: „Viele junge Flüchtlinge sind längere Zeit nicht zur Schule gegangen. Wenn sie keine Hilfe erhalten, können sie ihre Potenziale nicht nutzen und es wächst eine verlorene Generation heran.“ Die Unterstützung sei auch deshalb sehr wichtig, weil die Zuwanderer häufig mit der einheimischen Bevölkerung um Ressourcen konkurrieren. Dadurch können Konflikte entstehen: zum Beispiel um Essen und Bildung.
Um diese Konflikte zu vermeiden, arbeitet das BMZ bei der Sonderinitiative mit verschiedenen Partnern zusammen. Dazu gehören die Europäische Kommission und deutsche Organisationen wie die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Auch internationale und VN-Organisationen, Universitäten, Think Tanks, Nichtregierungsorganisationen, Stiftungen, Kirchen sowie die Regierungen der betroffenen Staaten zählen zu den Partnern. Die Sonderinitiative ist nur ein Baustein des BMZ, um Flüchtlingen neue Perspektiven zu bieten. Das Bundesministerium wird in dieser Legislaturperiode insgesamt mehr als 12 Milliarden Euro in Herkunfts- und Aufnahmeländern ausgeben. ▪
Gemeinsamer Aktionsplan von EU und Türkei
Auf dem EU-Türkei-Gipfel Ende November 2015 haben die Europäische Union und die Türkei einen konkreten Aktionsplan zur Eindämmung des Flüchtlingszustroms nach Europa beschlossen. Mit drei Milliarden Euro unterstützt die EU rund zwei Millionen Flüchtlinge in der Türkei und ihre Aufnahmegemeinden. Ankara sicherte zu, heimische Küsten besser zu schützen und effektiver gegen Schlepper vorzugehen. Mit diesen konkreten Ergebnissen sei das Gipfeltreffen, so Bundeskanzlerin Angela Merkel, „ein weiterer Baustein in den Bemühungen auf europäischer und internationaler Ebene, die Flüchtlingskrise zu bewältigen“. Bereits zuvor hatte Merkel im Bundestag betont: „Wenn wir über internationale Anstrengungen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise sprechen, ist die Türkei ein Schlüsselpartner für die Europäische Union.“ Durch die auf dem Brüsseler Gipfel beschlossene Finanzhilfe für die Türkei könne, so Merkel nach dem Treffen, eine bessere Gesundheitsversorgung bereitgestellt oder die Bildungschancen der Flüchtlingskinder verbessert werden. Es soll erreicht werden, dass die Flüchtlinge nicht weiter nach Europa fliehen. Zusätzlich sollen gemeinsam mit der Türkei die Seenotrettung, der Grenzschutz und die Bekämpfung der Schleuserkriminalität verstärkt werden.