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„Frieden ist für uns zu selbstverständlich“

Vier junge Europäer über den Umgang mit der Vergangenheit.

11.06.2014
© Stephan Pramme - Young people

Als 1989 die Mauer fiel, waren sie wenige Monate alt oder noch nicht geboren. Gleichgültig stehen Anya, Mathilde, Jan und Malte den historischen Ereignissen deshalb nicht gegenüber. Vielmehr sehen sie darin Lehrstücke für die Zukunft. Im „European Youth Parliament“ tauschen sie sich mit anderen Europäern aus. Clara Görtz und Helen Sibum trafen die vier in Berlin

DE Magazin: Welche persönliche Verbindung habt ihr zu den Ereignissen, derer 2014 gedacht wird?

Jan: Für uns Tschechen sind die prägendsten Ereignisse sicher der Fall der Mauer und das Ende des kommunistischen Regimes in unserem Land. Diese Zeit kenne ich allerdings nur aus den Erzählungen meiner Eltern – ich wurde im April 1989 geboren, im Jahr des Umsturzes.

Malte: In Deutschland sind natürlich die beiden Weltkriege wichtige Themen. Ich persönlich habe in den vergangenen Jahren aber auch viel Neues über den Mauerfall erfahren. Ich komme aus einer Kleinstadt in Westdeutschland. Erst als ich zum Studium nach Berlin zog, traf ich Menschen, deren Leben ganz direkt von der Teilung berührt war und die den Prozess der Wiedervereinigung bewusst miterlebt hatten.

Anya: Auch mir ist erst hier in Berlin klar geworden, welch große Rolle der Mauerfall für Europa spielt. In der Ukraine liegt der Fokus auf dem Zweiten Weltkrieg. Mein Großvater hat häufig davon erzählt. Seine Geschwister sind verhungert, sein Vater floh in die USA. Er musste schreckliche Dinge mit ansehen. Das ganze Leben lang hatte er Angst, dass so etwas noch einmal passiert. Er ist jetzt fast 80. Was derzeit in der Ukraine geschieht, beobachtet er mit großer Sorge.

Mathilde, in Frankreich steht der Erste Weltkrieg im Mittelpunkt des Erinnerns, oder?

Mathilde: Ja, das hat Tradition. Früher bin ich jedes Jahr mit meinen Eltern auf den Friedhof gegangen, um der toten Soldaten zu gedenken. Ich beschäftige mich aber auch seit Langem mit Deutschland und weiß deshalb, dass der Zweite Weltkrieg hier eine besondere Bedeutung einnimmt.

Anya: Das ist übrigens etwas, das ich erst lernen musste – wie stark das deutsche Erinnern an den Zweiten Weltkrieg mit Trauer und Schrecken besetzt ist. Für die Ukrainer ist das Ende des Krieges vor allem ein Grund zum Feiern. Wir hatten Europa von den Nazis befreit.

Was glaubt ihr – wie stabil ist der Frieden in Europa heute?

Jan: Ziemlich stabil. Ich habe keine Angst davor, dass es noch einmal zu einem großen Konflikt kommt.

Mathilde: Grundsätzlich stimme ich dem zu. Es kommt aber darauf an, wie viel Beachtung wir dem Erinnern schenken. Ich habe durchaus die Befürchtung, dass – wenn wir vergessen, was passiert ist – solche Dinge wieder geschehen. Nicht immer lernen wir aus der Vergangenheit.

Malte: Den Frieden zwischen den EU-Staaten halte ich für beständig. An der EU kann man vieles kritisieren, aber der Frieden ist da und er steht nicht zur Debatte.

Anya: Auch 1913 war es friedlich in Europa. Glücklicherweise herrscht derzeit Einigkeit – aber wie lange noch? In der Ukraine wird internationales Recht systematisch unterwandert.

Malte: Befürchtest du tatsächlich, dass dort ein größerer Krieg ausbrechen könnte?

Anya: Ja, das scheint mir durchaus möglich. Im Prinzip herrscht doch bereits Krieg. Menschen sterben. Es stimmt nicht ganz, dass wir in besonders friedlichen Zeiten leben.

Der Europapolitiker Jean-Claude Juncker sagt: „Jungen Leuten zu erklären, Europa ist eine Friedensmaschine, überzeugt nicht mehr, weil die meisten keine Kriegserfahrungen haben.“ Nehmen wir den Frieden zu selbstverständlich?

Mathilde: Für die Generation, die nach dem Mauerfall geboren wurde, stimmt das wahrscheinlich. Wir kennen keinen Krieg. Die Situation in der Ukraine ist für uns ein Schlag ins Gesicht und deshalb ist es so wichtig, zu gedenken – und sich immer wieder vor Augen zu führen, warum die Europäische Union überhaupt gegründet wurde.

Müssten Jugendliche sich stärker engagieren?

Malte: Absolut. Vor den Bundestagswahlen 2013 in Deutschland habe ich von erschreckend vielen Menschen gehört, dass sie nicht wählen gehen – dabei ist das Wählen nur die einfachste Form der Partizipation. Je besser du dich informierst und je stärker du dich beteiligst, desto größer ist die Chance, Fehlentwicklungen zu verhindern.

Viele Menschen in Europa finden, dass es dem Europäischen Parlament an einem großen Thema, einer Leitidee mangelt. Wie seht ihr die europäische Politik?

Mathilde: Ich sehe einen Widerspruch darin, dass manch einer behauptet, die EU sei nicht demokratisch, und dann nicht zur Wahl geht. Ich kann allerdings verstehen, dass die Europawahlen wenig Leidenschaft entfachen. Es ist schwierig, sich mit den Parteien zu identifizieren. Doch es gibt Fortschritte, Europapolitik wird interessanter. In diesem Jahr sind die Parteien erstmals mit Spitzenkandidaten angetreten. Vielleicht hilft das, intensivere Debatten anzuregen.

Malte: Es wirkt immer noch so, als orientiere sich 
Europapolitik an Staaten und nicht an Parteien. 
Die Menschen fühlen sich nicht von den Christ- oder den Sozialdemokraten repräsentiert, sondern von Deutschland oder Frankreich. Vor allem für Einwohner kleinerer EU-Länder ist es deshalb schwierig, einen Bezug aufzubauen. Trotzdem finde ich es geradezu absurd, dass sich im Europäischen Parlament anti-europäische Parteien zusammentun.

Können Krisen Europa spalten?

Jan: Im Gegenteil, sie einen Europa. Die Finanzkrise 
ist der Grund dafür, dass wir uns jetzt in Richtung ­einer engeren Zusammenarbeit bewegen. Das gilt ­insbesondere für Tschechien, aber auch für andere Staaten.

Malte: In diesem Punkt möchte ich Jan widersprechen. Die Krise wurde in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich wahrgenommen. 2012 habe ich in London studiert und war an einem Projekt beteiligt, in dem viele junge Europäer mitarbeiteten. Insbesondere die Spanier und Portugiesen waren ziemlich verärgert über das deutsche Auftreten in der Krise. Ich konnte ihren Ärger verstehen. Das waren hochgebildete junge Menschen, die trotz ihres Studiums und ihrer Mehrsprachigkeit keine Perspektive sahen und deren Eltern gerade ihren Job verloren hatten. Da war ein Auseinanderdriften zu spüren.

Jan: Eine engere Kooperation infolge der Finanzkrise sehe ich vor allem im Hinblick auf Institutionen und Gesetzgebung. Kulturell betrachtet, wurden Beziehungen beschädigt, da stimme ich dir zu.

Malte: Nun sind kulturelle Bindungen aber das Wichtigste. Sie sind der Schlüssel.

Mathilde: Ich für meinen Teil hoffe, dass Europa am Ende von der Krise profitiert, dass es daraus lernt und daran wächst. Bislang sehe ich das noch nicht.

Inwiefern profitiert ihr selbst von der europäischen Einigung?

Mathilde: Das ist schwer zu sagen. Ich wurde 1991 geboren, ein Jahr vor der Verabschiedung des Maas­tricht-Vertrags. Für mich ist die EU schon immer da gewesen. Ich glaube aber, dass die europäische Einigung den Austausch zwischen Menschen erleichtert, und das ist das Entscheidende: Die EU bringt Menschen zusammen.

Malte: Auch für mich sind die Menschen, der Kontakt, die Mobilität der größte Gewinn. Man kann im Ausland zur Schule gehen, im Ausland studieren, im Ausland arbeiten – es gibt so viele Möglichkeiten, das ist toll.

Dennoch ist die Jugendarbeitslosigkeit in Europa ein großes Problem. Macht ihr euch Sorgen?

Malte: Ich persönlich mache mir keine Sorgen, aber ich kenne Gleichaltrige in Europa, für die es sehr schwierig ist, einen guten Job mit einer angemessenen Bezahlung zu finden. Das ist ein riesiges Problem. Die europäische Idee muss für alle gleichermaßen funktionieren. Jeder muss profitieren, das sollte das Ziel sein. Für die Schwierigkeiten im Bildungssektor und die Jugendarbeitslosigkeit brauchen wir dringend ­Lösungen.

Die Jugendarbeitslosigkeit ist auch Thema eines Think Tanks der Schwarzkopf-Stiftung Junges ­Europa. Dort trefft ihr Gleichaltrige zum Gedankenaustausch. Was passiert mit den Ideen, die ihr entwickelt?

Mathilde: Wir formulieren ein Strategiepaper, das wir der Europäischen Kommission überreichen. Einige EU-Parlamentarier geben dazu ihre Einschätzung ab und diskutieren mit uns über die Vorschläge.

Habt ihr das Gefühl, dass ein echtes Interesse an eurer Meinung besteht?

Mathilde: Wir treffen den EU-Kommissar für Soziales und Integration sowie weitere Kabinettsmitglieder. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen.

Malte: Unsere Ideen werden vielleicht auch in anderer Hinsicht Wirkung haben: Wir sind diejenigen, die in Zukunft in europäischen Organisationen und in der Wirtschaft arbeiten. Vielleicht werden wir Entscheidungsträger sein. Insofern ist es gut, sich möglichst früh eine Meinung zu bilden und sie zu kommunizieren.

Wie sieht das Europa aus, in dem ihr in Zukunft ­leben möchtet?

Malte: Es sollte mehr Gleichheit und Ausgewogenheit herrschen. Europa wächst nicht automatisch zusammen. Das wird besonders mit Blick auf die südlichen Länder ganz deutlich. Seit dem Mauerfall sind jetzt 25 Jahre vergangen, aber nicht einmal in Ost- und Westdeutschland sind die Lebensbedingungen gleich.

Mathilde: Ich wünsche mir, dass die Bürger eine stärkere Beziehung zu Europa aufbauen. Ich hoffe, wir können in Zukunft eine gemeinsame europäische Identität stiften.

Jan: Ein größeres Bewusstsein für Europa und ein stärkeres europäisches Gefühl wären wünschenswert. Und eine engere Verbundenheit der einzelnen europäischen Länder.

Anya: Ich fände es gut, wenn Europa etwas integrativer wäre und weniger skeptisch gegenüber Ländern, die Mitglied werden möchten, wie die Ukraine.

MALTE ROSSKOPF

25 Jahre, Deutschland

Der Jurastudent lebt in Berlin. Im politischen Engagement junger Menschen sieht er eine wesentliche Möglichkeit, Fehlentwicklungen zu verhindern

ANYA SUPRUNENKO

24 Jahre, Ukraine

Sie arbeitet in der politischen Beratung. Zu Studienzeiten war sie die Vorsitzende des ­Europäischen Jugendparlaments in der ­Ukraine

MATHILDE PASCAL

22 Jahre, Frankreich

An der Universität 
Konstanz und der 
Science Po Grenoble absolviert sie ein deutsch-französisches Masterstudium in 
„Public Administration and European Governance“

JAN MAREŠ

25 Jahre, Tschechien

Der Wirtschaftsstudent steht kurz vor dem 
Abschluss. Er spricht sich für eine größere ­Verbundenheit der ­einzelnen Länder ­Europas aus