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Reden wir über Religion

Auch im deutschen Alltag gibt es Religionskonflikte. Wir fragen: Wie äußern sie sich? Wie lassen sie sich lösen?

Friederike Haupt, 25.09.2017
Vier Menschen, vier Zugänge zu Religion
Vier Menschen, vier Zugänge zu Religion © Gene Glover

Wer in Deutschland eine Religion ausüben will, hat das Grundgesetz auf seiner Seite. Darin steht, dass die Freiheit des Glaubens unverletzlich ist. Und dass die ungestörte Religionsausübung gewährleistet wird. Aber was heißt das im Alltag? Immer wieder gibt es Konflikte, deren Auslöser – nicht unbedingt Ursache – Religion ist. Mal geht es um das Tanzverbot am Karfreitag, mal um Kopf­tücher, mal um einen jüdischen Jungen, der in seiner Klasse gemobbt wird. Die große Frage ist jedes Mal, wie Menschen verschiedener Religionen friedlich und freundlich zusammenleben können. Die große Antwort fehlt leider noch. Aber man kann versuchen, viele kleine Antworten zu finden. Darum kommen an einem Spätsommertag in Berlin vier Menschen zusammen, in deren Leben Religion eine große Rolle spielt: ein ehemaliger Salafist, eine Muslima, eine Mitarbeiterin des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus und ein Wissenschaftler, der Chancen und Grenzen von interreligiösem Dialog untersucht. 

Ein großer Tisch, Kaffee, zwei Stunden Zeit zum Reden: nicht viel für ein Thema, über das Menschen schon seit Jahrtausenden streiten. Aber genug, um sich auszutauschen. Die vier Gesprächspartner treffen einander zum ersten Mal. Sie mus­tern sich neugierig, ein bisschen scheu. 

Erst mal ist zu klären, woran man reli­giöse Konflikte überhaupt erkennt. Denn wenn ein Christ und ein Muslim oder ein Jude und ein Buddhist über Alltägliches in Streit geraten, spielt die Religion oft gar keine Rolle. Etwas anderes ist es, wenn ­Menschen wegen ihrer Religion in Schwierigkeiten kommen. In den vergangenen Monaten kam es zu einigen brisanten Zwischenfällen in Deutschland. So wurden in Flüchtlingsheimen Christen von Muslimen verprügelt, weil sie Christen sind. Schweineköpfe wurden dort abgelegt, wo Moscheen geplant sind, und in Berlin wurden israelische Touristen antisemitisch beleidigt. 

Die Einzige in der Runde, die auf den ers­ten Blick einer Religion zuzuordnen ist, ist die Muslima Hawa Öruc. Die 26-Jährige, die aus einer kurdischen Familie stammt, hat sich vor vier Jahren dazu entschieden, das Kopftuch zu tragen. Hat sie den Eindruck, dass Leute auf das Kleidungsstück reagieren? Öruc sagt: „Ja, ich spüre die Ausgrenzung massiv, gerade seit die Pegida-Bewegung aufgekommen ist und seit die AfD in 13 Landesparlamente einzog.“ Die Anhänger der islamfeind­lichen Pegida-Bewegung veranstalten seit 2014 Demonstrationen in Dresden, die AfD ist eine rechtspopulistische Partei, die 2013 gegründet wurde. 

Streitfall: Kopftuch

Neulich, als Öruc mit dem Zug reiste, wurde sie beim Aussteigen von einem Mann kräftig geschubst. Öruc nimmt an, dass er sich von ihrem Kopftuch provoziert fühlte. So etwas sei ihr nie passiert, als sie noch keines getragen habe. Sie spüre die Ausgrenzung aber auch dadurch, wie in der Gesellschaft über das Kopftuch gesprochen werde. „Etwas, womit ich meine Zugehörigkeit definiere, wird gleich als Uniform beschrieben.“ Aber auf ­abwertende Weise. „Jeder, der sich einem Fußballverein zugehörig fühlt, darf Farbe bekennen, jedes Wochenende grölen und sagen: Ich gehöre zu ­dieser Mannschaft und ich trage diese Uniform, weil ich es mag! Da hat man nicht diese negative Konnotation.“

Jetzt schaltet sich Dominic Schmitz ein: „Ist doch logisch. Es sprengt sich ja niemand für Schalke in die Luft.“ Schmitz war früher Salafist, einer von etwa 10 000 in Deutschland. Der FC Schalke 04 ist ein Fußballbundesligist in seiner Heimat­region. 2009 musste der Club sich mit einer religiös aufgeladenen Diskussion zum Vereinslied beschäftigen: „Mohammed war ein Prophet / Der vom Fußballspielen nichts versteht“, heißt es da. Ein Islamwissenschaftler kam zu der Einschätzung, dass die Verse nicht islamfeindlich seien und empfahl „etwas mehr Humor und Entspannung“. Dominic Schmitz hat religiöse Konflikte schon aus ­vielen Perspektiven erlebt und warnt heute eindringlich vor dem Islamismus. Mehrere Jahre gehörte es zu seinem Alltag, dass er anderen misstraute und sie ihm – wegen der Art, wie er und sie ihre Religion ausübten. Inzwischen beschreibt er sich einfach als „Dominic – dazu gehört ein bisschen Christ sein, ein bisschen Muslim sein, Philosophie, Zweifel“. 

Schimpfwörter in der Schule

Zwischen Schmitz und Öruc entspinnt sich nun ­eine Diskussion, in der es um den islamistischen Prediger Sven Lau geht, um Kunst und Musik im Islam und um die Frage, wie manche Muslime die Meinungsfreiheit bewerten, zum Beispiel im Zusammenhang mit Karikaturen. An Mohammed-Karikaturen entzünden sich immer wieder Kon­flikte zwischen Muslimen und Andersgläubigen. Es wird klar: Schmitz sieht Gefahren im Islam, wo Öruc keine sieht. Beide sprechen sehr höflich mit einander, aber man merkt ihnen an, dass sie auf­gewühlt sind. Schon hier am Kaffeetisch zeigt sich: Religiöse Konflikte sind auch deswegen so schwer beizulegen, weil sie sich um den Kern dessen drehen, woran jemand glaubt. Es geht nicht um irgendwas, sondern um alles. Als Schmitz einen Satz ­vorträgt, den er als problematischen Koranvers beschreibt, den Öruc aber noch nie gehört hat, stockt das Gespräch.

Still zugehört hat bisher Tabea Adler vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus. Dabei kann auch sie viel berichten von religiösen Konflikten. Ihre Einschätzung ist, dass viele Auseinandersetzungen nur vermeintlich mit Religion zu tun haben. „Wenn jemand einen Mann anspricht auf seine Kippa, stehen oft ganz andere Faktoren dahinter. Da geht es nicht darum, dass er was über die Religion wissen will, sondern dass er ein Kulturbild vor Augen hat.“ Und: „Es passiert häufig, dass Juden verantwortlich gemacht werden für die Politik Israels.“ Das sei schon ziemlich irrational.

Und es geht noch kruder. Unter Schülern wird das Wort „Jude“ heute immer häufiger als Schimpfwort gebraucht. Dabei geht es gar nicht darum, einen vermeintlichen Juden als solchen zu ­bezeichnen, sondern nur darum, jemanden zu beschimpfen. Eine Befragung von Berliner Lehrern im Auftrag des „American Jewish Committee“ ergab, dass diese Ansprache auf Schulhöfen inzwischen „zum Alltag“ gehöre. Viele Juden in Deutschland sind eingeschüchtert von dieser Entwicklung, die sich nicht auf Schulhöfe beschränkt. „Ich kenne Leute, die gern die Kippa tragen würden, es aber nicht tun, um Anfeindungen aus dem Weg zu gehen“, berichtet Hawa Öruc. 

Der Wissenschaftler am Tisch, Kim David Amon, weiß besser als viele andere, welche religiösen Konflikte gerade Jugendliche beschäftigen. Er untersucht, wie im Religionsunterricht darüber gesprochen wird. In Hamburg, wo er arbeitet, gibt es den Sonderfall des Religionsunterrichts, an dem Schüler unterschiedlicher Religionen teilnehmen. Er beschreibt, dass in Klassen mit muslimischer Mehrheit oft einige wenige Schüler sitzen, „die mit einer starken Meinung voranpreschen und so was wie die religiöse Deutungshoheit haben“. Die Verschiedenheit der Standpunkte sei „häufig nicht so präsent“, auch wenn sie, wie Interviews zeigten, durchaus vorhanden ist. 

Workshops und Vorträge

Ein Thema, über das Jugendliche ver­schiedener Religionen miteinander in Konflikt geraten, ist Homosexualität. Dominic Schmitz beschreibt, dass muslimische Schüler oft den Standpunkt verträten, Homosexualität sei etwas Schlimmes, Verachtenswertes. Sie sagten ihm, wenn ihr Sohn schwul wäre, würden sie ihn verstoßen. Diese Sichtweise ist auch Tabea Adler vom Jüdischen Forum bekannt. Sie ­leitet Workshops in Flüchtlingsunterkünften, die Hauptzielgruppe sind Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 14 und 18 Jahren. „Zum Thema Homosexualität sagen viele: Bei uns gibt’s das nicht. Und dann kommt man ins Gespräch. Wir sagen: Du hast das noch nicht gesehen, weil es in deinem Heimatland verboten ist. Das heißt aber nicht, dass es das nicht gibt. Ich hoffe, dass wir für Denkanstöße sorgen.“

Nun sind die vier Gesprächsteilnehmer bei der Frage angelangt, wie man Konflikte lösen kann. Denkanstöße will auch Schmitz den Schülern geben. Er sagt ihnen: „Was du glaubst, ist deine Sache. Aber dein Sohn, der homosexuell ist, macht das nicht, um dich oder Allah zu ärgern. Dann sagen die: ‚Das ist ’ne Prüfung. Allah prüft die.‘ Dann sage ich: Das ist doch nicht gerecht. Was ist das denn für ein Gott, der sich das anschaut und sich sagt: Toll, der macht das für mich, das ist ja ein toller Gläubiger.“ Schmitz hofft, dass die Schüler anfangen, nachzudenken. Daran, sie sofort überzeugen zu können, glaubt er nicht.

An Austausch interessiert

Wissenschaftler Amon ist optimistisch, dass Schüler an Austausch grundsätzlich interessiert sind. Auch Adler hat die Erfahrung gemacht, dass die Jugendlichen, mit denen sie spricht, nicht verschlossen sind. Ob sie zum Beispiel Probleme habe, wenn sie als Mitarbeiterin des Jüdischen Forums zu jungen Muslimen komme? „Wir haben in den Einrichtungen nie eine grundlegend negative Haltung erlebt. Bedenken wurden eher von den Mit­arbeitern geäußert. Manche haben Angst, dass es zu sehr provoziert. Aber die Jugendlichen fragen nicht explizit, ob ich Jüdin bin. Das machen die wenigsten.“ Die Frage würde sie übrigens nicht stören: „Ich denke, das ist ganz legitim. Mich stört es eher, dass Leute so zaghaft sind und so eine Angst haben, als wäre es was Schlimmes, danach zu fragen.“ 

Amon weist darauf hin, dass es nicht nur die muslimischen Schüler sind, denen der Austausch über Religion wichtig ist. Aber: „Vielen Jugendlichen, die sich einer anderen Religion zuordnen würden, mangelt es an der Sprachfähigkeit über Religiöses oder das, was einen im Innersten so umtreibt.“ Es gebe eine Hemmschwelle, sich darüber auszutauschen – über Religion diskutieren ist eben auch eine Übungssache. Wer es noch nicht oft gemacht hat, hält sich gern zurück, weil er niemanden verletzten will oder weil er Angst hat anzuecken. ­Adler, Schmitz, Öruc und Amon sind geübt. Sie unterbrechen einander nicht, hören aufmerksam zu und erklären ausführlich.

Die Gesprächszeit ist um, der Fotograf macht Bilder. Als er fertig ist, bleiben die vier ­Teilnehmer noch und diskutieren weiter. Manche für zwei Stunden. Es scheint, als gebe es mindes­tens eine Sache, in der sich alle einig sind: Reden bringt etwas.

Kim David Amon
Kim David Amon © Gene Glover

Der 32-Jährige arbeitet an der Akademie der Welt­religionen der Universität Hamburg. Für das ­Forschungsprojekt „Religion und Dialog in modernen ­Gesellschaften“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) untersucht er, wie Menschen ­verschiedener Religionen ­miteinander in Kontakt kommen. Sein Schwerpunkt ist der Austausch von Schülern und Lehrern im ­Klassenzimmer.
awr.uni-hamburg.de

Vielen fehlt die Sprache, um über ­Religion zu reden
Kim David Amon
Hawa Öruc
Hawa Öruc © Gene Glover

Die 26-Jährige engagiert sich unter anderem beim muslimischen Poetry-Slam „i,Slam“ und in der Kreuz­berger Initiative gegen ­Antisemitismus (KIGA) in Berlin. Daneben studiert sie Physik und Embedded ­Systems. Sie stammt aus einer kurdischen Familie und ist schon immer Muslima. Das Kopftuch trägt sie jedoch erst seit vier Jahren.
kiga-berlin.org

Mein Kopftuch wird als Uniform ­beschrieben
Hawa Öruc
Dominic Schmitz
Dominic Schmitz © Gene Glover

Der 29-Jährige ist ein ­Aussteiger aus der Salafisten­szene. Geboren und auf­gewachsen in Nordrhein-Westfalen, konvertierte er mit 17 Jahren zum Islam. Er ­arbeitete mit radikalen Predigern wie Sven Lau zusammen und drehte islamistische ­Propagandavideos. Nach sechs Jahren schaffte er den Absprung. Er schrieb ein Buch über die Zeit bei den Radikalen und spricht mit Schülern über seine ­Erfahrungen.
bit.ly/2eUwSZf

Ich sage den Jugendlichen: Sei du – und ,du‘ kann alles sein. Bitte hasse niemanden, weil er anders ist
Dominic Schmitz
Tabea Adler
Tabea Adler © Gene Glover

Die 31-Jährige arbeitet beim Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus in Berlin. Der Verein berät und unterstützt Menschen, die ­antisemitisch beleidigt oder angegriffen werden. Adler ist derzeit in einem Projekt für Flüchtlinge und deren ­Betreuer tätig, in dem diese unter anderem dazu befähigt werden sollen, mit Rassismus und religiösen Konflikten umzu­gehen. Sie ist evangelisch. 
jfda.de

Die Jugendlichen fragen nicht explizit, ob ich Jüdin bin
Tabea Adler