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Migrantische Deutsche als politische Kraft

Der Soziologe Özgür Özvatan setzt sich dafür ein, dass die etablierten Parteien Migrantinnen und Migranten stärker wahrnehmen.

Canan TopçuCanan Topçu, 26.09.2025
Özgür Özvatan
Özgür Özvatan: vom Berufsfußballer zum politischen Beobachter © Nassim Rad

Özgür Özvatan wurde übersehen. Früh war zu erkennen, dass er ein politisch kluger Kopf ist. Aber die etablierten Parteien kamen nicht auf die Idee, das Talent des jungen Mannes zu nutzen und ihn anzusprechen. Heute ist der 40-Jährige ein anerkannter Politikexperte und hat mit seinem neuen Buch „Jede Stimme zählt. Von Demokraten unterschätzt, von Populisten umworben: migrantische Deutsche als politische Kraft“ ein größeres Publikum erreicht.

Özvatans Vater und Mutter wuchsen als Angehörige der türkischen Minderheit in Bulgarien auf, zogen mit seinen Großeltern in die Türkei um und gingen dann später als junge Erwachsene nach Deutschland. „Politik spielte bei uns zuhause immer eine große Rolle“, erzählt Özvatan. Sein Vater war in linken Gruppen aktiv und Mitbegründer des Türkischen Elternvereins Berlin-Brandenburg, einer Organisation der Kinder- und Jugendhilfe.

Auch im Fußball politisch engagiert 

Özvatan begann als Sechsjähriger in einem Berliner Verein Fußball zu spielen, war bis zu seinem 30. Lebensjahr sogar Berufsfußballer. Zu einem seiner Trainer, dem aktuellen Leiter der Talentförderung beim Deutschen Fußball-Bund (DFB), Markus Hirte, hatte er einen guten Draht. Hirte riet ihm, sich frühzeitig mit der Frage zu beschäftigen, wie sein Leben nach der Fußballkarriere weitergehen sollte. 

Özvatan folgte diesem Rat und begann 2011 an der Berliner Humboldt-Universität Sozialwissenschaften zu studieren. Noch während des Studiums beendete er sein aktives Sportlerleben, vom politischen Engagement im Fußball hat er sich jedoch nicht verabschiedet. Özvatan ist ehrenamtlich für den Berliner Fußball-Verband tätig, als Vizepräsident für Gesellschaftliche Verantwortung.

Wissenschaftliche Arbeit in der Integrationsforschung

 „Ich habe mit großem Ehrgeiz und selbsterzeugten Druck studiert“, sagt er rückblickend. Auch weil er gedacht habe, allen beweisen zu müssen, dass auch ein Profifußballer ein kluger Kopf sein kann. Özvatan schloss sein Studium mit der Bestnote ab und promovierte. Von 2020 bis 2024 war er Abteilungsleiter am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung. Dort verantwortete er unter anderem Forschungsprojekte zur Bedeutung des „Deutschen Islams“ und zur Radikalisierung von Jugendlichen durch soziale Medien.

„Ich sah mich aber nicht in einer Professur, sondern an einem Ort, der mehr direkte Wirkung versprach“, sagt Özvatan heute über einen weiteren Wendepunkt in seinem Leben. Als Wissenschaftler wolle er „gesellschaftspolitisch, wirkungsorientiert und emanzipatorisch agieren“ und zu positiven Veränderungen in der Gesellschaft beitragen.

Beratung von Parteien, Kommunen, Unternehmen

Schon 2023 hatte er das Unternehmen Transformakers gegründet. Es ist auf strategische Beratung spezialisiert und arbeitet mit Stiftungen, Kommunen, Bildungseinrichtungen und Privatunternehmen zusammen. Demokratischen Parteien hilft Özvatan dabei, bisher zu wenig berücksichtigte Gruppen anzusprechen und sie für dauerhaftes Engagement zu gewinnen.

 Seit der Jahrtausendwende sei der Anteil der wahlberechtigten migrantischen Bevölkerung in Deutschland massiv angestiegen, so Özvatan. Bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen 2025 hätte sich das zum Beispiel durch migrantische Wählergemeinschaften bemerkbar gemacht. Es seien sogar rechtsextreme „Alternativen“ von Migranten gewählt worden, in der falschen Annahme, endlich von jemandem vertreten zu werden.

Wer migrantische Wählerinnen und Wähler sowie Communitys ignoriert, gefährdet langfristig das gesamte demokratische System.
Özgür Özvatan, Soziologe und Politikwissenschaftler

Etablierten Parteien fehle es an einer gezielten Strategie zur Ansprache der migrantischen Deutschen. Wichtig sei es, professionelle und communitybasierte Angebote für diese Zielgruppe zu entwickeln, insbesondere Angebote für die digitale Welt, um ein wirkungsvolles Gegengewicht zu den demokratiefeindlichen und populistischen Akteuren zu bilden, die ihre Botschaften reichweitenstark und zielgruppenspezifisch streuten. 

 

„Wer migrantische Wählerinnen und Wähler sowie Communitys ignoriert, schwächt nicht nur die eigene Partei, sondern gefährdet langfristig das gesamte demokratische System in Deutschland“, meint Özvatan. In seinem Buch hat er vorgerechnet, dass die Einbürgerungszahlen weiter steigen und der Anteil der migrantischen Wahlberechtigten demnächst zwischen 20 und 30 Prozent liegen werde. „Wenn sie bei der nächsten Bundestagswahl im Jahr 2029 alle geschlossen eine Partei wählen würden, könnte diese die zweitstärkste politische Kraft werden. Das ist natürlich unwahrscheinlich; dafür sind migrantische Wählergruppen zu pluralistisch. Aber das Szenario vermittelt die Bedeutung des migrantischen Votums.“