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Wie weit ist es von Bangalore nach Stuttgart?

Keine Sekunde. Denn die Digitalisierung ermöglicht Unternehmen Forschung und Entwicklung an verschiedenen Standorten fast zeitgleich rund um den Globus. Ein Interview mit dem Mercedes-Benz-Forscher Dr. Jens Cattarius.

19.12.2014
© Daimler AG - Jens Cattarius

Herr Dr. Cattarius, Sie waren bis Anfang 2014 Leiter des Mercedes-Benz Forschungs- und Entwicklungszentrums (MBRDI) in Bangalore/Indien, dem größte Forschungs- und Entwicklungszentrum des Unternehmens außerhalb Deutschlands. Was haben Sie dort gemacht?

Das Entwicklungszentrum wurde bereits 1996 gegründet und liegt mit seinem Standort in Bangalore im Süden Indiens in einem der wirtschaftlichen Zentren des Landes. Die zahlreichen dort angesiedelten internationalen Unternehmen und die vielen technischen Universitäten und Forschungsinstitute in der Region, haben der Stadt den Ruf eingebracht, das „Silicon Valley Indiens“ zu sein. Meine Aufgabe bestand darin, den Standort auszubauen und die Kompetenzen in das globale Research and Development-Portfolio zu integrieren. Während meiner Amtszeit wuchs der Standort von ursprünglich 350 Mitarbeitern durchschnittlich pro Jahr um knapp 40 Prozent auf über 1300 Mitarbeiter. In dieser Zeit eröffneten wir auch im Industrieviertel Whitefield in Bangalore unser aktuelles Hauptgebäude, in dem wir dann auch alle Mitarbeiter, die bis dahin auf unterschiedlichen Bürogebäuden in einem Businesspark verteilt waren, zusammenziehen konnten.

Wie weit weg ist man in Bangalore von der Zentrale? Oder besser: Wie muss man sich die Zusammenarbeit zwischen Bangalore und Stuttgart inhaltlich, technisch und zeitlich vorstellen?

Das globale Research and Development-Netzwerk ist eng miteinander verbunden. Die technischen Möglichkeiten der digitalen Kommunikation lassen uns nahezu alle geographischen Distanzen problemlos und sicher überbrücken. So sind unsere Mitarbeiter in Bangalore vollständig in das Netzwerk eingebunden und können ohne spürbaren Zeitverzug auf alle Systeme direkt zugreifen. Trotz Zeitverschiebung sind vier bis fünf Stunden gemeinsamer Arbeitszeit, zum Beispiel mit der Zentrale in Sindelfingen, problemlos möglich. Und per E-Mail oder Telefon- beziehungsweise Videokonferenzen sind wir immer eng mit unseren Kollegen in der Zentrale verbunden.

Welchen Stellenwert nimmt Indien in dem weltweiten Forschungsnetzwerk von Mercedes-Benz ein?

Mit aktuell gut 2000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist MBRDI das größte Daimler Forschungs- und Entwicklungszentrum außerhalb Deutschlands. Hier wird in engem Verbund mit den anderen RD-Standorten weltweit für die Forschung, Entwicklung und IT der Daimler AG gearbeitet.

Welche Aufgaben nimmt Indien in dem weltweiten Forschungsnetzwerk von Mercedes-Benz wahr? Und was kann man in Indien besser machen als in Deutschland?

Der Schwerpunkt der Arbeit von MBRDI liegt auf der digitalen Entwicklung, dem virtuellen Engineering. Die Schwerpunkte dabei sind CAD-Design von Bauteilen und Modulen, sowie die Simulation und Absicherung im Rahmen der Sicherheitsentwicklung, die Validierung für das Electronic/Electrical Engineering, Funktionsabsicherungen sowie Hardware in the Loop-Prüfstände. In der IT geht es vor allem um Software-Entwicklung und Maintenance, zum Beispiel Datenbank-gestützte Systeme, die unsere Ingenieure bei Konstruktions- oder Versuchsumfängen begleiten und unterstützten. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Betreuung von Lieferanten vor Ort, insbesondere für Interieur-Komponenten. Ich bin davon überzeugt, dass Daimler mit MBRDI seine Wettbewerbsfähigkeit steigern kann. Denn der Know-how-Aufbau in Indien nutzt die Stärken der indischen Kollegen optimal. Sie sind methodisch und analytisch sehr gut. Ein bekanntes Beispiel ist die IT. Das lässt sich aber auch auf viele Bereiche der Ingenieurskunst übertragen. Wir wollen damit auch Know-how wieder ins Unternehmen hereinholen, das zu Lieferanten gegangen ist. Alles in allem sehe ich, dass mit MBRDI die deutschen Standorte gestärkt werden. Für mich besteht kein Zweifel: Herz und Seele von Mercedes-Benz schlagen in Deutschland. Durch die Arbeit von MBRDI bekommen die deutschen Ingenieure aber wieder mehr Freiraum, um Produkte im Wettbewerb mit Innovationen voranzubringen. Denn die Entwicklung der x-ten Variante muss nicht unbedingt in Deutschland geleistet werden. Ziel ist, dass Daimler und Mercedes-Benz wieder an der Spitze stehen und MBRDI einen wichtigen Beitrag dazu leisten kann.

Können Sie ein erfolgreiches Projektbeispiel aus der Vergangenheit nennen?

Unsere erfolgreichsten Projekte sind in den Gebieten, in denen MBRDI seine volle Stärke entfalten kann. Das sind auf der einen Seite Methoden- oder Toolentwicklungen in der Simulation und auf der anderen Seite direkte Steuerung von lokalen Dependancen globaler Lieferanten. In den drei so genannte „Automotive Cluster“ die „National Capitol Region (NCR)“ um die Hauptstadt Delhi, die Region Pune/Mumbai sowie Bangalore/Chennai konzentrieren sich Original Equipment Manufacturer und Lieferanten. Dort sind zum Beispiel Bosch, Continental, Faurecia, Harman, Johnson Control, Magna und andere angesiedelt. Auf diese greifen wir in Projekten, in denen die Muttergesellschaften Umfänge in ihren indischen Standorte bearbeiten, direkt aus Bangalore zu – und können somit unsere Lieferanten unmittelbarer steuern.

Nun sitzen Sie wieder in der Zentrale in Sindelfingen. Was machen Sie dort?

In meinem neuen Job verantworte ich fachbereichsübergreifende Dienstleistungen und Prozesse der Produktentwicklung im Ressort Group Research und Mercedes-Benz Car Entwicklung. Dies sind auf der einen Seite Themen wie Fahrzeug Dauerlauf, Aufbau der Entwicklungsfahrzeuge, Produktdatendokumentation oder auch Projektmanagement-Unterstützung. Auf der anderen Seite sind es Steuerungsprozesse der Produktentwicklung wie zum Beispiel Mercedes-Benz Pkw Produktentwicklungs- oder Änderungsprozesse. Auch übergreifende Sonderthemen befinden sich in meinem Verantwortungsbereich, zum Beispiel das neue Daimler Prüf- und Technologiezentrum in Immendingen. Genau wie in Bangalore zieht mich die Arbeit hier in Sindelfingen voll in seinen Bann und verlangt maximale Einsatzbereitschaft. Indien mit seiner stark wachsenden Marktwirtschaft und seiner sehr jungen Bevölkerung, ist in den Wirtschaftsmetropolen wie Bangalore von einer faszinierenden Aufbruchsstimmung umgeben, die auch die Unternehmen in ihrem Funktionsprinzip stark prägt. Die Mitarbeiter sind jung, gut ausgebildet und ehrgeizig – alles wächst, wird größer und verändert sich rasant. Die Herausforderungen an das Management sind dementsprechend ganz andere. Neben den inhaltlich fachlichen Herausforderungen, beschäftigt man sich sehr stark mit Fluktuation und den hohen persönlichen Erwartungshaltungen der Mitarbeiter, die am Wachstum des Unternehmens karrieretechnisch teilhaben wollen.

Haben Sie noch Kontakt nach Indien?

Die Zeit in Indien hat mich enorm beeindruckt und geprägt – und ich stehe nach wie vor in sehr engem Kontakt mit den Kollegen und Kolleginnen in Bangalore. In meiner aktuellen Funktion bin ich auch im Aufsichtsrat der MBRDI und kann so weiterhin an der Entwicklung des Unternehmens teilhaben.

Der digitale Wandel hat diese Art der Zusammenarbeit erst möglich gemacht. Welche weiteren Möglichkeiten zeichnen sich für die Zukunft ab?

Die Digitalisierung des Arbeitsplatzes wird weiter fortschreiten und wir werden im weltweiten Research and Development-Verbund mit unseren Standorten immer effizienter vernetzt sein. Dadurch gewinnen wir im Produktentstehungsprozess weiter an Flexibilität und Schnelligkeit und können auch unsere Entwicklungsprozesse einfacher und effektiver globalisieren. Die Digitalisierung schafft uns die Kundennähe, die wir brauchen, um mit der gewonnenen Flexibilität und Schnelligkeit unsere Produkte ganz gezielt auf die Kundenbedürfnisse abzustimmen – im globalen Wettbewerb ein entscheidender Erfolgsfaktor.

Zuletzt zu Ihnen: Bedienen Sie sich auch persönlich der Vorteile der digitalen Gesellschaft?

Ich bin seit vielen Jahren bereits beruflich im Netz unterwegs und bediene mich der Vorteile der digitalen Welt natürlich auch privat: Ich nutze die sozialen Netzwerke um im Freundes- und Familienkreis Beziehungen auch über geographische Distanzen zu pflegen und aufrecht zu erhalten – und kaufe zum Beispiel online selten ein, ohne vorher Bewertungen im Internet gelesen zu haben. Onlinebanking und mobiles Internet sind für mich kaum noch wegzudenken. ▪

Interview: Martin Orth