Ein Schulbuch für zwei Länder
50 Jahre gibt es die Deutsch-Polnische Schulbuchkommission. Professor Bömelburg erklärt ihren Beitrag zur Verständigung.
Herr Professor Bömelburg, welche Aufgaben hat die Deutsch-Polnische Schulbuchkommission?
Bei ihrer Gründung war das zentrale Ziel, die sehr gegensätzlichen Geschichtsbilder zu versöhnen. Die Kommission wurde 1972 unter der Schirmherrschaft der UNESCO gegründet, unmittelbar nachdem der Warschauer Vertrag ratifiziert worden war, in dem die Bundesrepublik Deutschland Polen in seinen aktuellen Grenzen anerkannte. Sie ist also die älteste deutsch-polnische Institution.
Damals wurden in Deutschland noch sehr stark überkommene Vorstellungen vertreten, Stichwort ist die heftige Diskussion über Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze oder eben die Vorstellung eines Deutschland in den Grenzen von 1937. Die unterschiedlichen Geschichtsbilder einander anzunähern, zunächst durch den Dialog von Experten, also Historikern, Geografen und weiteren Kulturwissenschaftlern, war ihre wichtigste Aufgabe. Daher hat die Kommission bereits in den 1970er-Jahren Empfehlungen für bestimmte Schulbücher ausgesprochen. Die waren damals gerade in Westdeutschland äußerst umstritten, weil darin von traditionellen Vorstellungen etwa der Vertriebenenverbände im deutschen Schulunterricht abgerückt wurde.
War die Kommission damit erfolgreich?
Mittel- und langfristig haben sich die auf unzähligen bilateralen Gesprächen basierenden Schulbuchempfehlungen weitgehend durchgesetzt. Die deutschen Schulbücher wurden beim Thema Polen versachlicht und vermittelten stärker auch polnische Inhalte und Perspektiven. Das ist sicher noch ausbaufähig, aber dass wir so weit gekommen sind, ist zum erheblichen Teil ein Verdienst der Schulbuchkommission. Nach der Wiedervereinigung 1989 hat die Kommission aktuelle schwierige Themen aufgegriffen, etwa Migration oder die Diskussion um Flucht und Vertreibung. Sie hat stets zu Mäßigung aufgerufen und sie hat das gegenseitige Verständnis gefördert.
Gibt es Unterschiede zwischen deutschen und polnischen Schulbüchern?
Da gab es schon immer einen gewissen Unterschied in der Perspektive. Polnische Geschichtsbücher und polnische Schulbücher schauen viel stärker nach Westen als deutsche Geschichte, Schulbücher oder überhaupt Sachbücher auch nach Osten, nach Polen schauen. Das heißt letztendlich lag die größere Vermittlungsaufgabe schon immer auf deutscher Seite.
Dann kam das Projekt des gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichtsbuchs?
Seit 2008 haben wir intensiv an dem gemeinsamen deutsch-polnischen Schulbuch gearbeitet. Es ist erst das zweite internationale Schulbuch für Geschichte überhaupt. Älter ist nur das deutsch-französische Geschichtsbuch für Sekundarstufe zwei. Das deutsch-polnische Geschichtsbuch ist für die Sekundarstufe eins, also die Klassen 7 bis 10. Die Konzeption war insofern schwierig, da in der polnischen Perspektive viel stärker osteuropäische Einflüsse enthalten sind, die sich traditionell in westdeutschen Schulbüchern weniger finden. Bis 2021 haben wir diese vier Bände entwickelt, die in Deutschland mit Ausnahme von Bayern für den Unterricht zugelassen sind. Bayern fehlt seine regionale Geschichte, die aber in einem internationalen Buch keine größere Rolle spielen kann.
Wie ist die Situation in Polen?
In Polen sind Band 1 bis 3 regulär für den Unterricht zugelassen. Band 4 hat nur die Zulassung als Hilfsmittel, weil polnische Gutachter Mängel beanstandet haben. Zum Beispiel, dass in dem Buch steht, dass der Warschauer Aufstand gegen die deutschen Besatzer 1944 auch in Polen umstritten war. Wir vermitteln als zentrale Lerninhalte Multiperspektivität und Kontroverse, aber das ist aktuell von der polnischen Geschichtspolitik und der Regierung nicht so erwünscht. Dennoch: Wir blicken optimistisch in die Zukunft.
Die Kommission hat gerade ihr 50-jähriges Bestehen gefeiert. Wenn Sie zurückblicken, was hat sie erreicht?
Ein ganz wichtiger Punkt ist die Ausbildung von Spezialisten für Polen in Deutschland. Das ist eine sehr langfristige Aufgabe und geht nur über Universitäten. Übrigens gehört zwingend auch der Erwerb polnischer Sprachkenntnisse dazu. Inzwischen haben wir ein bis zwei Dutzend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich zu polnischen Themen kompetent äußern können. In Polen haben wir die Entwicklung von Deutschlandstudien unterstützt. Dort sind Deutschkenntnisse natürlich sehr verbreitet – wobei das in der jüngeren Generation auch nicht mehr so selbstverständlich ist.
Am wichtigsten ist vielleicht, dass wir an einer generellen Klimaänderung mitgewirkt haben. Wir bemühen uns um Dialog und partnerschaftlichen Austausch. Diese grundsätzliche Bereitschaft und eine Offenheit für Dialog sind wichtige Ergebnisse unserer gemeinsamen Arbeit.
Welche Projekte verfolgt die Kommission in Zukunft?
Wir wollen das Schulbuch zumindest in Teilen auf die digitale Ebene bringen. Viele Lehrkräfte sind aus ihrem Studium mit der mitteleuropäischen Geschichte aus polnischer Perspektive nicht vertraut, deswegen entwickeln wir Lernmodule, auch digitale, aus dem Schulbuch. Das macht ein Arbeitskreis von Lehrerinnen und Lehrern ehrenamtlich bei der Kommission. Wir wollen uns mehr mit der Rolle von Museen und Gedenkstätten als Orte von Geschichts- und Wissensvermittlung befassen. Gerade in Polen gibt es eine ganze Reihe herausragender musealer Projekte. Schließlich beteiligen wir uns mit unserer Expertise aus 50 Jahren deutsch-polnischer Zusammenarbeit an der Diskussion um den Ort des Erinnerns für Polen in Berlin.
Prof. Dr. Hans-Jürgen Bömelburg lehrt Geschichte an der Universität Gießen. Seit 2012 ist er gemeinsam mit Prof. Dr. Violetta Julkowska (seit 2020) Co-Vorsitzender der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission der Historiker und Geographen.