Der Entdecker der „Seidenstraße“
Die Wiederbelebung der alten Seidenstraße ist derzeit ein großes Thema. Namensgeber war ein deutscher Geologe und Geograph, der als erster das Großreich China erforschte.
Es ist ein Projekt von gigantischen Ausmaßen, eines das nach Schätzungen mehr als 60 Prozent der Weltbevölkerung und etwa 35 Prozent der Weltwirtschaft betrifft. Die Rede ist von dem seit 2013 von China vorangetriebenen, umstrittenen Handels- und Infrastruktur-Netzwerk, dessen offizielle Bezeichnung „Ein Gürtel, eine Straße“ lautet. In Deutschland wird es die „Neue Seidenstraße“ genannt. Der Name leitet sich von der alten Seidenstraße ab. Ein Netz von schon in der Antike wichtigen Handelswegen, dessen Hauptroute den Mittelmeerraum auf dem Landweg über Zentralasien mit Ostasien verband. Auch der berühmte Venezianer Marco Polo soll für seine Reise nach China die Seidenstraße genutzt haben, deren Name im Jahr 1877 von dem Deutschen Ferdinand von Richthofen geprägt wurde.
Der ist heute weit weniger bekannt als der große Weltreisende Marco Polo. Oder als Alexander von Humboldt, der durch das in Berlin neu eröffnete Humboldt Forum in aller Munde ist. Dabei war der am 5. Mai 1833 im schlesischen Carlsruhe geborene Ferdinand Paul Wilhelm Freiherr von Richthofen einer der bedeutendsten deutschen Geographen. Wie Humboldt war er ein bahnbrechender Forschungsreisender. Er gilt als Pionier der Länderkunde, Begründer der modernen Geomorphologie und war auch als Professor in Bonn, Leipzig und Berlin eine prägende Figur. Seiner Antrittsvorlesung in Bonn gab der frisch berufene Professor den Titel „Die centralasiatischen Seidenstrassen". Als er am 6. Oktober 1905 an seinem Schreibtisch in Charlottenburg starb, wurde er als deutscher Geograph an Nachruhm nur von Humboldt übertroffen.
Die erste Reise führte weit ab von China
Dieser inzwischen doch etwas verblasste Ruf hängt wie bei Polo mit den China-Reisen Richthofens zusammen. Die erste fand in den Jahren 1860 bis 1862 statt. Richthofen war damals 27 Jahre alt. Er hatte in Breslau und Berlin Geologie und Geographie studiert und in Österreich und Siebenbürgen erste geologische Untersuchungen unternommen, als er die Chance bekam, mit einer preußischen Handelsdelegation nach Asien zu reisen. Der Hintergrund: Konkurrierende Nationen wie die USA oder England drängten in den asiatischen Markt. Diplomatisch war die Reise ein Erfolg, aber unter anderem wegen des Taiping-Aufstands war Richthofen der Weg zu Forschungen nach Zentralasien verwehrt. Weswegen er 1862 stattdessen ins vom Goldfieber befallene Kalifornien aufbrach.
Anders bei der zweiten China-Reise, zu der Richthofen „in der Neujahrsnacht von 1867 auf 1868“ den ersten und am 30. Juli 1868 den endgültigen Entschluss fasste. Wieso? Weil es über das Land zwar eine umfangreiche Literatur gab. Es „unter allen zivilisierten und ihren allgemeinen Verhältnissen nach bekannten Ländern“ trotzdem „das am wenigsten durchforschte“ war, wie er im Vorwort zum 1877 erschienen ersten Band seines fünfbändigen Werkes „China. Ergebnisse eigener Reisen und darauf gegründeter Studien“ bemerkt. Am 3. August verließ er San Francisco, am 5. September erreichte er Schanghai, „und nicht ohne Bangigkeit stand“ er an „der Pforte des ungeheuren Reiches, dessen Erforschung durch einen Einzelnen ein verwegenes Unternehmen schien.“
Sieben weitere Reisen
Richthofen unternahm von da an sieben Reisen, die ihn durch 13 der 18 chinesischen Provinzen führten. Und als er 1872 nach Deutschland zurückkehrte, war er der seit Marco Polo in China am weitesten gereiste Westeuropäer. Der Unterschied: Während Polos Chinareise in Vielem wie ein Märchen klingt, ist Richthofens geographische Forschungsreise aufs Ausführlichste belegt. In seiner Schriftenreihe beschäftigte er sich neben der Geomorphologie des Landes auch mit Fragen der Wirtschafts- und Kulturgeographie.
„Im Interesse der Europäer“
Hinzu kommen zwei posthum veröffentliche Reisetagebücher, in denen neben fachmännischer Aufzeichnungen auch eine Fülle persönlicher Erlebnisse steckt. Hier kommt man auch Richthofens persönlichen Sichtweisen näher, die wie bei vielen Zeitgenossen zwar eurozentristisch geprägt waren, ihn trotzdem als aufmerksamen und zu eigenen Schlüssen befähigten Beobachter offenbaren. So erkannte er etwa in den enormen Kohlevorkommen Chinas Reichtum, sah dessen Aufstieg zur industriellen Großmacht voraus und konstatierte, dass das Land „nun dauernd im Vordergrund der Interessen für Europäer stehen“ wird. Im Zeitalter der „Neuen Seidenstraße“ klingt das geradezu prophetisch und sehr aktuell. Zeit also, den „Vater“ der alten Seidenstraße wiederzuentdecken.