Preisgekrönte Forschung, konkrete Zukunftspläne
Deutsch-türkischer Austausch: Ein Interview mit der Sofja Kovalevskaja-Preisträgerin Katja Dörschner-Boyaci.

Frau Dr. Dörschner-Boyaci, vor Ihrem Umzug nach Gießen leiteten Sie als Assistant Professor das „Brain and Perception Lab“ an der türkischen Bilkent University. Was ist unter Ihrem Schwerpunkt, der visuellen Materialwahrnehmung, zu verstehen?
Es handelt sich hierbei um ein recht junges Forschungsfeld, das erst seit etwa 15 Jahren Aufmerksamkeit findet. Ob der Tisch glatt und glänzend oder rau und rissig ist, entscheiden wir im Alltag oft innerhalb von Sekunden, aber wie die visuelle Wahrnehmung von Oberflächen und Objekten genau funktioniert, ist bislang noch weitgehend unbekannt. Mich interessiert dabei zum einen, welche Bildreize bei der Erkennung von Materialeigenschaften relevant sind. Zum anderen beschäftige ich mich mit der Frage, welche Abläufe im Gehirn für die visuelle Materialwahrnehmung verantwortlich sind und wie die verschiedenen Gehirnareale miteinander kommunizieren.
Was hat Ihr Interesse an diesem Forschungsgebiet geweckt?
Ich bin über die Kunst zu Psychologie und Kognitiver Neurowissenschaft gekommen. Da mich das Visuelle schon immer interessiert hat, habe ich zunächst an der Grafik-Design-Schule Anklam studiert und auch als Multimediadesignerin in den USA gearbeitet. Schon damals wollte ich wissen, wieso manche Kompositionen und Gestaltungsweisen funktionieren und andere weniger – und kam so mit der Wahrnehmungspsychologie in Kontakt. Irgendwann faszinierte mich das menschliche Gehirn so sehr, dass ich beschloss, eine Forscherlaufbahn einzuschlagen. So begann ich dann an der University of Rhode Island Psychologie zu studieren.
Als Sofja Kovalevskaja-Preisträgerin 2014 haben Sie nun die Möglichkeit, eine Forschungsgruppe an der Justus-Liebig-Universität Gießen aufzubauen. Welches Projekt werden Sie dort in den nächsten fünf Jahren mit Ihrem Team verfolgen?
Auch in Gießen beschäftige ich mit der visuellen Materialwahrnehmung. Dabei fokussiere ich mich mithilfe der Kernspintomografie auf die Frage, welche Gehirnareale bei der Materialwahrnehmung aktiv sind und wie der Informationsfluss verläuft. Zudem möchte ich in den nächsten Jahren erforschen, wie sich im Prozess des perzeptuellen Lernens von visuellen Eigenschaften Netzwerke im Gehirn bilden. Die Justus-Liebig-Universität Gießen ist dabei der perfekte Ort, denn die Wahrnehmungspsychologie ist hier Forschungsschwerpunkt. Ebenso sind die technischen Rahmenbedingungen an der JLU exzellent. Dank des Sofja Kovalevskaja-Preises der Alexander von Humboldt-Stiftung habe ich nun die Möglichkeit, mich in den nächsten Jahren weitgehend ohne Lehre und administrative Zwänge voll und ganz auf die Forschung zu konzentrieren.
Wie waren Ihre bisherigen Forschungsrahmenbedingungen in der Türkei?
Die Bilkent University ist eine private Hochschule, die sehr forschungsorientiert ist. Auch dort gibt es ein MRT-Zentrum, das unserem Team bei Bedarf immer zur Verfügung stand. Auch die Finanzierung unserer Projekte war immer gesichert, da unsere Forschung von verschiedenen europäischen und türkischen Wissenschaftsstiftungen gefördert wurde. Wertvoll war auch die Kooperation der unterschiedlichen Fachbereiche der Bilkent University. Gemeinsam mit Genetikern habe ich beispielsweise Patienten untersucht, die eine seltene, genetisch-bedingte Entwicklungsstörung des primären visuellen Kortex aufwiesen. Dadurch hatte ich die Möglichkeit, den Zusammenhang von Genotyp, Funktionsweise des Gehirns und seiner Struktur zu erforschen. Mit der Bilkent University und dem „Brain and Perception Lab“ stehe ich immer noch in Kontakt, derzeit bin ich für verschiedene Projekte als externe Beraterin tätig. Auch in Zukunft möchte ich mit meinen türkischen Kollegen in Verbindung bleiben und das internationale Netzwerk pflegen. Denn nicht zuletzt das Deutsch-Türkische Jahr der Forschung, Bildung und Innovation 2014 hat gezeigt: Ein wissenschaftlicher Austausch ist für beide Nationen von Vorteil. ▪
Interview: Christina Pfänder