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Mach dich locker!

Jahrzehntelang galt in Politik und Wirtschaft ein strenger Dresscode. Doch der wird jetzt von höchster Stelle aufgehoben. Nicht jedem gefällt das.

Julia Löhr, 30.09.2016

Es ist noch nicht lange her, da war ein 
lockerer Kleidungsstil in Deutschland ein Privileg von Start-ups. Junge Gründer durften, wenn auch unter allgemeinem Naserümpfen, auf Anzug und Krawatte, Kostüm und Pumps verzichten und auch ihre Gesprächspartner penetrant duzen. Wer aber im Berufsleben Seriosität ausstrahlen wollte, hatte sich in edles Tuch zu hüllen.

Wie die Zeiten sich doch ändern: Daimler-Chef Dieter Zetsche erscheint auf einmal mit weißen Sneakern auf einem roten Spendengala-Teppich, und dann kündigt auch noch Lidl-Chef Klaus Gehrig, Herr über ein so schwäbisches wie konservatives Unternehmen, an, dass er fortan von seinen Mitarbeitern geduzt werden möchte. Was ist da los in Deutschlands Chefetagen? „Eine neue Lässigkeit“ beobachtet Clemens Graf von Hoyos, Vorstandsvorsitzender der Knigge-Gesellschaft und damit so etwas wie der oberste Tugendwächter im Land.

Das neue Kleidungscredo kommt nicht von ungefähr. Es geht darum zu beeindrucken. Politiker wollen Wählern so Bodenständigkeit und Tatendrang signalisieren. Die Konzernchefs wiederum haben potenzielle Bewerber im Blick: Seht her, ist doch alles gar nicht so hierarchisch, wie es gemeinhin heißt. Dass sich die Wirtschaft so verändert, hat viel mit dem demo­grafischen Wandel zu tun. Die Zahl der Jungen sinkt beständig, gute Uniabsolventen können sich ihre Arbeitgeber längst aussuchen. Anders als vor einigen Jahren ist dabei ein bekannter Name nicht mehr alles. Der freiheitsliebenden Generation Y erscheint es wenig attraktiv, in einem Traditionskonzern mit all seinen Abteilungs-, Stabs- und Bereichsleitern sowie den damit verbundenen Berichtswegen anzuheuern. Indem sich die Chefs in der Öffentlichkeit hemdsärmelig geben, signalisieren sie: Wir mögen zwar äußerlich alt sein, innen aber sind wir jung und dynamisch. Als Daimler-Chef Zetsche kürzlich auf der Internet­tagung Noah in Berlin in Jeans und Hemd erschien, tat er das nicht ohne Grund: Er sollte dort auf Travis Kalanick treffen, den ebenso jungen wie smarten Gründer des Fahrdienst-Start-ups Uber. Der Dienst ist nicht nur eine ernsthafte Bedrohung für das Geschäftsmodell von Daimler, sondern mittlerweile auch fast genauso viel wert wie Deutschlands Vorzeige-Autohersteller.

Doch Zetsche ist kein Einzelfall. Oliver Bäte, Vorstandschef der Allianz, trat unlängst in roten Sneakern vor seine Aktionäre, Siemens-Frontmann Joe Kaeser hob kürzlich öffentlich den Dresscode auf. „Smart Casual“ nennt sich das neue Mantra der Geschäftswelt, kurzum: Ein bisschen schicker als zu Hause darf es schon sein, doch die Übergänge zwischen Arbeit und Freizeit verwischen. Für die Frauen gilt das übrigens nur eingeschränkt: Während in den Vereinigten Staaten Yahoo-Chefin Marissa Mayer oder Facebook-Frontfrau Sheryl Sandberg zu Terminen gerne in ausgesprochen figurbetonten Kleidern erscheinen, bleiben Frauen in Führungspositionen in Deutschland doch meist beim Hosenanzug. Keine Experimente, wenn es darum geht, ernst genommen zu werden.

Mit der neuen Lässigkeit in vielen Unternehmen ändert sich auch der Umgangston. Zuerst bot Hans-Otto Schrader, Vorstandschef von Otto, seinen Mitarbeitern das Du an (wer möchte, darf ihn auch kurz „Hos“ nennen). Dann rief PWC-Deutschlandchef Norbert Winkeljohann seine Mitarbeiter auf, ihn doch in Zukunft zu duzen. Und Klaus Gehrig, Chef der 375 000 Mitarbeiter in den Lidl- und Kaufland-Filialen, ist ab sofort „der Klaus“. Das mag nett gemeint sein und in interna­tionalen Konzernen sinnvoll erscheinen, wo ohnehin allenthalben per „you“ und Vorname kommuniziert wird. Doch nicht jeder Mitarbeiter schätzt die verbale Nähe. „Das Du vermeidet keine Konflikte, im Gegenteil“, warnt Knigge-Fachmann von Hoyos, mitunter schafft es erst welche. Etwa, wenn der Klaus von Lidl klipp und klar sagt: „Wer sich nicht duzt, isoliert sich. Das sind nicht die Leute, die wir brauchen.“ ▪