Zum Hauptinhalt springen

Berlins dunkle Seite: Auf Spurensuche im Untergrund

Der US-Amerikaner Nick Snipes führt durch die „Berliner Unterwelten“ und erforscht Geschichte auch an der Freien Universität.

Interview: Christina Pfänder, 22.07.2025
Nick Snipes im „Bunker B“ am Bahnhof Gesundbrunnen
Nick Snipes im „Bunker B“ am Bahnhof Gesundbrunnen © Berliner Unterwelten e.V.

Herr Snipes, was kann man in den „Berliner Unterwelten“ erleben?

Unser Verein zeigt Berlins verborgene Geschichte. Einige Strecken führen durch originale Luftschutzräume aus dem Zweiten Weltkrieg und Atombunker des Kalten Kriegs. Die beklemmende Atmosphäre – kühl, dunkel, eng – hinterlässt bei vielen Besuchern einen bleibenden Eindruck. Wir greifen auch aktuelle Debatten auf, etwa zur möglichen Reaktivierung solcher Schutzräume. Andere Programme widmen sich Fluchtversuchen und den sogenannten Geisterbahnhöfen, die während der deutschen Teilung entstanden. Damals durchquerten Züge aus West-Berlin auch einen Teil Ost-Berlins, allerdings ohne anzuhalten – die Stationen waren abgeriegelt, überwacht, zugemauert. Mit Originalfotos, Zeitzeugenstimmen und historischen Exponaten machen wir diese Zeit erfahrbar.

Welche Orte finden Sie besonders beeindruckend?

Der Flakturm im Humboldthain ist ein beeindruckendes Erlebnis. Der Bau wurde im Zweiten Weltkrieg errichtet, sollte der Luftabwehr und Zivilverteidigung dienen und war so massiv, dass die Franzosen ihn nach Kriegsende dreimal sprengten – doch zur Hälfte steht er bis heute. Bei unseren Touren erkunden wir das Turminnere: riesige Hallen, meterdicke Betonwände. Einen ganz anderen, sehr persönlichen Eindruck hinterlässt der Tunnel in der Dresdener Straße in Kreuzberg. Ursprünglich war an diesem Ort eine U-Bahn-Station geplant, das Projekt wurde jedoch nie realisiert. Stattdessen nutzte man die Anlage für Luftschutzräume und einen Mutter- und Kind-Bunker. Heute liegt ein Teil der Anlage unter dem Grundwasserspiegel. Auf unserer Tour „Tour D Spezial“ erhalten Besucher Gummistiefel und waten durch das kühle Wasser.

Im Inneren des ehemaligen Flakturms im Humboldthain
Im Inneren des ehemaligen Flakturms im Humboldthain © Berliner Unterwelten e.V. / Holger Happel

Was macht die Berliner Unterwelten für Gäste aus den USA oder Kanada besonders interessant?

Besucherinnen und Besucher aus Nordamerika bringen oft ein anderes Geschichtsbild mit. In den USA liegt der schulische Fokus meist auf dem Pazifikkrieg, während unsere europäischen Gäste eine eher eurozentrische Perspektive auf den Krieg haben. Da unsere Gäste auf den englischsprachigen Führungen so unterschiedliche Hintergründe haben, weiß ich oft nicht, wie vertraut sie mit Themen wie der Teilung Deutschlands oder dem Luftschutz in europäischen Städten sind. Trotzdem bemühen wir uns, unseren Gästen eine neue Perspektive auf diese Ereignisse zu bieten. Unsere Touren eröffnen ihnen nicht nur neue Perspektiven, sondern auch eine unbekannte Form der Vermittlung: das unmittelbare Erleben. Statt vor Vitrinen zu stehen, bewegen sich unsere Gäste mit uns durch originale Räume. Viele wollen Geschichte nicht nur hören, sondern spüren: die Enge, die Dunkelheit, die Stille. Genauso eindrücklich sind die persönlichen Geschichten, die wir etwa in unserer Tour zur Flucht unter der Berliner Mauer erzählen. Hier zeigen wir unter anderem einen erhaltenen Tunnel aus den Jahren 1970/71, gegraben von einem kleinen Team in West-Berlin, um Menschen aus dem Osten in die Freiheit zu bringen. Die Stasi entdeckte den Tunnel kurz vor der Fertigstellung – die letzten Meter sind bis heute sichtbar. Viele der Fluchthelfer haben ihre Erinnerungen mit uns geteilt. Ihre Stimmen und Perspektiven fließen direkt in die Tour ein und machen diesen Ort für unsere Gäste erfahr- und nahbar.

Für mich war Berlin die naheliegende Wahl: zwei Weltkriege, Teilung, Kalter Krieg, Wiedervereinigung, hier verdichtet sich Geschichte.
Nick Snipes, Geschichtsstudent und Tourguide

Was ist Ihre Verbindung zu Berlin und Deutschland?

Ich komme aus einem kleinen Ort in North Carolina und habe mich während meines Studiums in den USA intensiv mit deutscher Geschichte befasst – besonders mit dem 20. Jahrhundert, das ich wegen seiner Brüche und Komplexität sehr spannend finde. In meiner Bachelor-Arbeit habe ich über Filmemacher und Schauspieler geschrieben, die in der Weimarer Republik aktiv waren und vor den Nationalsozialisten ins Exil fliehen mussten. Seit 2019 lebe ich in Berlin und studiere im Master an der Freien Universität. Für mich war Berlin die naheliegende Wahl: zwei Weltkriege, Teilung, Kalter Krieg, Wiedervereinigung, hier verdichtet sich Geschichte. Berlin ist für mich das Zentrum des 20. Jahrhunderts – in Deutschland und darüber hinaus.

Was hat Sie zu der Arbeit als Guide für die Berliner Unterwelten motiviert?

Im Rahmen des Studiums musste ich ein Praktikum machen. Ich habe mich bei den Berliner Unterwelten beworben und ein zweimonatiges Praktikum absolviert – und durfte anschließend selbst Touren übernehmen. Mittlerweile arbeite ich seit zwei Jahren als Guide. Was mich an der Arbeit besonders begeistert: Ich komme mit ganz unterschiedlichen Menschen in Kontakt. In Museen oder im akademischen Bereich diskutieren Historiker oft nur untereinander, aber hier rede ich mit Leuten, die vielleicht zum ersten Mal mit einem historischen Thema so direkt konfrontiert sind. Ich bekomme sofort Rückmeldung und passe die Tour an meine jeweiligen Gäste an. Dieser Austausch macht die Arbeit lebendig – und bringt auch mich dazu, meine Vermittlung ständig weiterzuentwickeln.