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Buchmesse: Die Bestseller von morgen

Drei Romandebüts, die ihr kennen müsst, wenn ihr während der Buchmesse mitreden wollt.

Matthias Bischoff, 05.10.2018
Philipp Weiss
Philipp Weiss © Lackinger Suhrkamp Verlag

Philipp Weiss: Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen

Worum geht’s?
Ein Projekt, das sich einer Zusammenfassung entzieht. In absurder Kürze so viel: Die 17-jährige Paulette erlebt 1871 den Aufstand der Pariser Kommune, bereist als eine der ersten europäischen Frauen Japan und liegt über 130 Jahre im Eis der französischen Alpen geborgen. Ihre Ururenkelin Chantal folgt ihren Spuren nach Fernost. Der von ihr verlassene Künstler Jona sucht in Japan nach ihr, und gerät dabei in eine vielfache Katastrophe: ein Erdbeben, eine Welle, einen Atomunfall. Gleichzeitig läuft der neunjährige Akio durch zerstörtes Gebiet und findet Satoshi, einen Tagelöhner und AKW-Nomaden, der langsam an den Folgen der Strahlung stirbt.

Was ist besonders?
Mit Sicherheit das ambitionierteste, vielleicht auch verrückteste literarische Projekt des Jahres: 1.000 Seiten, fünf Bände – ein Roman. Philipp Weiss lässt seine Figuren am Rand der Welt sitzen und erzählt von der Verwandlung dieser Welt in unserem Zeitalter, in dem der Mensch die Erde - nicht nur zum Guten - gestaltet. Weiss mischt dabei Enzyklopädie, Erzählung, Notizheft, Audiotranskription und Comic, springt mühelos vom 19. Jahrhundert in die Gegenwart und zurück. Ein kühnes, wahnwitziges, leicht größenwahnsinniges Epos.

Wer soll das lesen?
Geduld und Ausdauer braucht man schon. Aber alle, die Bücher jenseits des Mainstreams lieben, für alle, die die Kunst beherrschen, auch mal ein paar Seiten zu überfliegen, wird dieses Panoptikum ein Lesefest sein. Wer das bewältigt hat und mochte, wird auch Philipp Weiss lieben.

Bettina Wilpert
© Linonono

Bettina Wilpert: Nichts, was uns passiert

Worum geht’s?
Der Sommer der Fußball-WM 2014. Überall Public Viewing und Partys. Die 27-jährige Studentin Anna lernt Jonas kennen, es kommt zu einem nicht sonderlich romantischen One-Night-Stand. Als sie sich einige Tage später auf einer Party wiedertreffen, will Jonas wieder. Anna ist zu betrunken, um sich wirklich zu wehren, aber sie sagt mehrfach nein – was er missachtet. Nach zwei Monaten Wut und Depression schafft sie es, Anzeige zu erstatten. Jonas sagt, er habe kein „Nein“ gehört.

Was ist besonders?
Scheinbar neutral wird  von einer Protokoll-Instanz wiedergegeben, was jede Figur zu Protokoll gibt: Anna und Jonas, aber auch Geschwister, Freunde, Aktivisten. Obwohl der Leser unwillkürlich auf Annas Seite ist, wird man doch durch die immer neuen Perspektiven gezwungen anzuerkennen, dass die Geschichte komplexer ist, dass es ein einfaches Gut und Böse so nicht geben kann. Aber die Autorin lässt auch keinen Zweifel daran, dass Anna alles Recht hat, sich missbraucht zu fühlen.

Wer soll das lesen?
Dies ist ein Buch, das alle angeht. Männer, weil sie lernen können, auf Signale zu achten und welche Folgen übergriffiges Verhalten hat, selbst wenn sie sich (wie Jonas im Roman) nicht im Geringsten für einen Vergewaltiger halten. Ob Frauen Annas Verhalten Mut macht, lässt sich schwer beantworten. Aber dass es eigentlich keinen anderen Weg gibt, die verlorene Selbstachtung wenigstens ansatzweise wieder zu erlangen, wird auf den 170 Seiten, auf denen alle Folgen, alle Fragen und Widersprüche durchgespielt werden, mehr als deutlich.

Lukas Rietzschel legt das aktuellste Romandebüt vor.
Lukas Rietzschel legt das aktuellste Romandebüt vor. © Gerald von Foris

Lukas Rietzschel: Mit der Faust in die Welt schlagen

Worum geht’s?
Romane dieser Art nennt man auf gut Deutsch ja mittlerweile „coming-of-age“- Geschichten, weil einem Entwicklungsroman zu uncool vorkommt. Ist aber egal, denn die Brüder Philipp und Tobias, deren Leben hier von 2000 bis 2015 erzählt wird, von der Grundschule bis zum Eintritt in den Ernst des Lebens (sie arbeiten!), sind sehr deutlich als typische Vertreter ihrer Generation erkennbar. Sie leben im sächsischen Braunkohle-Revier, um sie herum Arbeits- und Perspektivlosigkeit, Abwanderung und der wachsende Einfluss von Neo-Nazis auf die Jugendlichen.

Was ist besonders?
Der Roman beschönigt nichts. In einer klaren, fast spröden Sprache verzichtet er auch auf tiefschürfende psychologisierende Erklärungen. Er verurteilt seine Protagonisten nicht, obwohl etwa Tobias immer mehr unter den Einfluss eines radikalen Rechtsextremen gerät.

Wer soll das lesen?
Jeder, der wissen will, was aktuell in den Herzen und Hirnen vieler junger Menschen vor sich geht. Wer wissen will, warum Jugendliche oft voller unartikulierbarer Wut sind. Mit Sicherheit das aktuellste Romandebüt dieses Herbstes, das erschreckend kenntnisreich aus dem Innern der Verstörung heraus geschrieben ist.

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