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Die Sprachschöpferin

Schriftstellerin von außergewöhnlichem Rang: Emine Sevgi Özdamar und ihr Weg von der Türkei nach Deutschland.

Sieglinde Geisel, 29.12.2022
Emine Sevgi Özdamar
Emine Sevgi Özdamar © picture alliance/dpa

Sie hat ein herausragendes literarisches Werk geschaffen, das 2022 auch mit dem Georg-Büchner-Preis, einem der bedeutendsten Kulturpreise Deutschlands, gewürdigt wurde: Ein Porträt der Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar, deren Lebensweg die Türkei und Deutschland verbindet.

Özdamar, geboren 1946 in Malatya, gehörte zu den ersten Autorinnen und Autoren, die auf Deutsch schrieben, obwohl es nicht ihre Muttersprache war. Schon im Titel ihres 1992 erschienenen Debütromans kündigte sich eine neue Literatursprache an: „Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus“. Sie habe sich damals nicht groß Gedanken über die Sprache gemacht, so sagt Özdamar heute rückblickend: „Warum soll man nur in seiner Muttersprache gut schreiben können? Man verliebt sich in einen Türken ebenso wie in einen Amerikaner oder einen Deutschen. Ist die Liebe dann weniger intensiv? Und so ist es auch mit der Sprache.“

Mit dem Etikett einer „Wegbereiterin“ für die migrantische Literatur kann die aktuelle Trägerin des Büchner-Preises allerdings wenig anfangen. Emine Sevgi Özdamars Weg aus der Türkei nach Deutschland widerspricht allen Klischees. „Du gehst als Ophelia von hier fort und kommst dort als Putzfrau an“, so weissagen es die Krähen in ihrem jüngsten Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“. Falls sie es doch schaffe, als Schauspielerin oder Schriftstellerin berühmt zu werden, so die Krähen weiter, werde man sie nicht in Ruhe lassen: „Sie werden dich loben und schreiben, dass du Pionierin der türkischen Künstler bist, dass du Aufklärerin der unterdrückten türkischen Mädchen bist, dass du eine Brücke zwischen der Türkei und Deutschland bist, dass du die einzige emanzipierte Türkin bist, dass du das beste Beispiel der Integration bist.“

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Emine Sevgi Özdamar kam 1965 als Achtzehnjährige zum ersten Mal nach Berlin, aus Abenteuerlust und weil sie von dort aus ihren Bruder besuchen wollte, der mit einem Stipendium in der Schweiz studierte. Sie war Gastarbeiterin in einer Fabrik für Radiolampen, dann Dolmetscherin und Zimmermädchen. Sie beteiligte sich an den Studentenunruhen, und der kommunistische Leiter ihres Frauenwohnheims nahm sie mit zu Aufführungen des Berliner Ensembles nach Ostberlin.

Als sie 1967 in die Türkei zurückkehrte, ging sie in Istanbul an die Schauspielschule. Ihr Lehrer empfahl ihr, die Stücke des deutschen Dichters und Revolutionärs Georg Büchner (1813–1837) zu lesen. Büchner habe ihr den Weg geleuchtet, sagte Emine Sevgi Özdamar kürzlich in ihrer Dankesrede für den nach ihm benannten Preis: „Meine große Sehnsucht, mein Bewusstsein zu erweitern, zu lesen, zu lernen, hatte mit Büchner zu tun.“

Rückkehr nach Ostberlin

1976 kam Emine Sevgi Özdamar wieder nach Deutschland, diesmal unter ganz anderen Umständen. Sie hatte sich in der Türkei als Schauspielerin etabliert, doch der Militärputsch von 1971 hatte jedes künstlerische Leben lahmgelegt. „Die Macht zerstört dir als erstes deine Sprache. Meine türkischen Worte waren krank.“ Sie verließ die Türkei mit dem Traum, ihre Sprache durch das Theater von Bertolt Brecht zu heilen. „Brechts Gedichte hatten uns damals in der Türkei sehr geholfen. Meine Freunde wollten immer, dass ich Lieder von Brecht singe: ‚Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine, die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag‘ – an diese Worte habe ich absolut geglaubt.“ Sie beschloss, nach Ostberlin an die Volksbühne zu gehen und wurde Regieassistentin bei Benno Besson, einem Schüler Brechts.

Alle Romane von Emine Sevgi Özdamar basieren auf ihrer Autobiografie. In „Die Brücke vom Goldenen Horn“ (1998) erzählt sie von ihrer Zeit als Gastarbeiterin in Berlin, der Tagebuchroman „Seltsame Sterne starren zur Erde“ (2003) ist ihrer Theater-Zeit in Ostberlin gewidmet. Sie erzählt so bildhaft, dass man sich beim Lesen fragt, wie jemand sich so detailliert an Ereignisse erinnern kann, die Jahrzehnte zurückliegen. „Weil diese Momente vielleicht eben nicht so waren, sondern weil man die kreiert“, antwortet sie mit einem Lächeln. Es sei wahr, dass es damals eiskalt war in der WG, weil alle an Weihnachten weggefahren waren, doch die angebissene, gefrorene Schokolade auf der Schreibmaschinentastatur oder der kalte Rauch in den Zimmern sei erfunden. „Die Kälte ist das Hauptmotiv, aber dann muss man das inszenieren. Man muss es herstellen, damit es Spaß macht zu lesen.“

Mit der Sprache reisend

Als Schauspielerin könne sie leicht „ich“ sagen: „Auch wenn ich Ophelia spiele, sage ich ‚ich‘. Es sind immer zwei Ichs: Beim Schreiben schicke ich das zweite Ich auf dem Papier auf die Reise.“ Der Modebegriff „Autofiktion“ wird dieser Art des autobiografischen Schreibens nicht gerecht, auch weil alle Texte von den politischen Katastrophen der Vergangenheit grundiert sind. Schon 1968 befürchtete ihr Lehrer an der Schauspielschule, die Politik könnte sie dem Theater entfremden. In „Die Brücke vom Goldenen Horn“ heißt es: „Die Politik zog mich nicht vom Theater weg, aber meine Zunge teilte sich. Mit der einen Hälfte sagte ich: ‚Solidarität mit den unterdrückten Völkern‘, mit der anderen Hälfte meiner Zunge sprach ich Texte von Shakespeare.“

Kunst und Politik, Komik und Tragik liegen in Emine Sevgi Özdamars Schreiben nah beieinander. In der Art, wie sie ihr Leben in Literatur verwandelt, ist sie in Deutschland ein Solitär. Ihr Blick auf die deutsche Sprache wirkt dabei ebenso schöpferisch wie ihr stets waches politisches Bewusstsein. „Die Hölle machte eine Pause“: Dieser Satz sei während dem Schreiben von „Ein von Schatten begrenzter Raum“ auf einmal dagewesen. Er steht für ihre Zeit der Siebziger- und Achtzigerjahre in Ostberlin, aber auch in Paris und Bochum, eine Zeit, in der man an die Vision einer besseren Welt habe glauben können.

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