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„Die Weltlage schreibt an literarischen Texten mit“

Mely Kiyak hat mit anderen europäischen Autoren 2014 die Europäische Schriftstellerkonferenz ins Leben gerufen. Ein Gespräch über Literatur im europäischen Prozess.

Petra Schönhöfer, 05.07.2016

Frau Kiyak, wie müssen wir uns die Stimmung auf der Europäischen Schriftstellerkonferenz 2016 vorstellen?

Nachdenklich. Wir haben viel darüber diskutiert, warum Europa ist, wie es ist. Und wie es auch sein könnte. Nicht nur im politischen, sondern auch im diskursiven Sinn. Viele Debatten, die in den einzelnen Ländern geführt werden, werden häufig an den Problemen vorbei geführt. Weil sie unpräzise in der Sprache sind, um nur ein Beispiel zu nennen. Was genau ist ein EU-Migrant? Handelt es sich um Migration, wenn Europäer sich innerhalb von Europa bewegen?

Sie gehören zur Initiativgruppe der Europäischen Schriftstellerkonferenz, die die Idee der Internationalen Schriftstellerkonferenz von 1988 fortführt. Was war die ausschlaggebende Idee dahinter, die Veranstaltung im Jahr 2014 wiederzubeleben?

Genau das. Unser Freund und Kollege aus der Initiativgruppe, Tilman Spengler, war bei dieser Konferenz in Berlin im Mai des Jahres 1988 dabei. Sie hieß damals „Ein Traum von Europa“ und nahm vorweg, was kurz darauf geschah. Der Fall des Eisernen Vorhangs und die Frage, was danach kommt. Es gibt ein Buch, in dem die Teilnehmer sich in Essays mit der Frage beschäftigen, was ein Europa der Völker sein könnte. Wir fanden, dass diese und andere Fragen sensationell aktuell sind – und beschlossen: Wir machen die Nachfolgekonferenz. Wieder in Berlin. Wieder im Mai. Das war 2014. Unsere Konferenz hieß in Anlehnung an das damalige Motto: „Europa – Traum und Wirklichkeit“. Wir luden auch ehemalige Teilnehmer wie Ágnes Heller und György Dalos ein, in einer Rede von früher zu erzählen. Diese Konferenz stand stark unter dem Einfluss der Ukraine-Russland-Krise und der ­Gezi-Park-Proteste in der Türkei. Die Konferenz verlief so aufschlussreich, dass wir beschlossen: noch eine Runde! Und wieder mit aktuellem Bezug, also „Grenzen Nieder Schreiben“. Wir luden Autoren ein, die geflohen waren, und diskutierten neben vielen politischen aktuellen Themen auch, was es bedeutet, Kultur im Exil zu schaffen.

Gibt es – fernab solcher Veranstaltungen – so etwas wie ein literarisches ­Europa?

Zunächst einmal gibt es keine Veranstaltungen, auf der sich Schriftsteller treffen und miteinander reden. Die Sprache ist nur eine Barriere von vielen. Ohne Übersetzer können wir nicht sprechen. Zu Ihrer Frage: Wir erfahren unsere Länder nicht nur durch Reisen, sondern vor allem durch die Erzählungen. Wenn ich auf Deutsch das Buch eines Mazedoniers lese, der mir seine Familiengeschichte erzählt, die in verschiedenen Ländern und Epochen stattfand, dann lese ich ­Europa. Die Literatur in ihren Sprachen ist die Bibliothek europäischen Lebens.

Wie sieht ein „Europa der Schriftsteller“ konkret aus – gibt es gemeinsame Projekte?

Der Schriftsteller schreibt über die Welt und ist doch sehr alleine. Schreiben ist eine einsame Tätigkeit. Nur durch die Weltabgewandtheit der Produktionsbedingung kommt die Zuwendung zur Welt zustande.

Kann Literatur trotzdem eine europäische Identität stiften?

Das tut sie, seit es Europa gibt. Von den griechischen Mythologien über Shakespeares Dramen bis hin zu norwegischen Sagen und jüdischen Anekdoten – wir haben uns mit Europa auf diese Weise bekannt gemacht.

Apropos europäische Mythen: Europa als Don Quichotte, der Schriftsteller als sein Sancho Pansa: Diesen anschaulichen Vergleich zog der litauische Autor Eugenijus Ališanka im Manifest zur Europäischen Schriftstellerkonferenz 2016. Glauben Sie, dass sich viele Autoren zurzeit mit dieser Rolle identifizieren – als Diener eines Ganzen auf die Diskrepanz zwischen Einbildung und Wirklichkeit hinzuweisen?

Der Autor spricht für sich. Und ist immer auch gefangen in seinem Kontext. Der kurdische Autor Yavuz Ekinci aus der Türkei erzählte sehr eindrücklich, wie er eines Tages auf die Straße tritt und auf fliehende Jesiden aus dem Sindschar-Gebirge trifft. Die Nachrichten kamen nicht mehr aus der Zeitung und dem Fernsehen, sondern standen direkt vor ihm. Ekinci sagt: „Darauf nicht zu reagieren, ist unmöglich. Ob man will oder nicht, es beeinflusst.“ Es macht einen Unterschied, ob Sie ein Autor aus Finnland sind oder einer aus Israel. Manchmal schreiben nicht die Autoren die Texte. Sondern die Weltlage schreibt mit. Eine Geschichte, die ein Lette schreibt, könnte wortgleich in der Türkei erscheinen oder in Russland und wird jedes Mal unterschiedlich gelesen. Auch hier bestimmt nicht der Autor, was gelesen wird, sondern der politische Kontext wird rezipiert. Es werden Dinge reingelesen, die da vielleicht gar nicht stehen.

Welche Macht hat Literatur Ihrer Meinung nach darüber hinaus, um auf europäische Prozesse einzuwirken?

Wir dürfen politisch sein als Autoren, aber nicht Politik machen. Das ist wichtig.

Das Motto der Schriftstellerkonferenz „Grenzen Nieder Schreiben“ ist sicher nicht zufällig doppeldeutig gewählt. Die Literatur kann Zustände beschreiben. Aber kann sie auch die Zustände ändern?

Ja, wobei die Grenze zwischen einer Geschichte, die politisch relevant ist, und Manipulation oder gar Propaganda in der Sprache und Erzählperspektive gezogen wird. Diejenige Literatur hat Genera­tionen sprach- und kulturübergreifend geprägt und bewegt, die eine gute Geschichte erzählte und die Welt und ihren Beziehungskosmos auf eine Familiengeschichte herunterbrach. Literatur, die zum Zwecke der politischen Beeinflussung geschrieben wird, ist wie schlecht gewordene Milch. Sie nehmen einen Schluck und spucken ihn sofort aus, weil sie merken: Hier stimmt was nicht.

Was bedeutet Europa für Sie?

Europa ist ein abstrakter Ort, den wir in der Imagination geschaffen haben. Es gibt Europa, weil wir es so wollen. Wir haben Grenzen gezogen und bestimmt: Das ist Europa. Wer hier wohnt, ist Europäer und gehört dazu. Wir können diese Grenzen aber verschieben. Auf friedlichem oder kriegerischem Weg. Nicht nur Menschen wandern über Grenzen. Auch Grenzen wandern über Menschen. Dies ist eine Tatsache. Europa ist also ein Ort der Orte. Und wie es so ist mit Orten. Man kann die Orte grotesk überhöhen: Heimat, Vaterland, Muttererde, man kann aber auch einfach in ihnen wohnen und den Ball flach halten. ▪