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Der andere Blick auf die Gegenwart

C/O Berlin bietet den Positionen junger Fotokünstler mit dem Talents-Wettbewerb eine einzigartige Plattform

Sabine Weier, 23.09.2015

Wenn vor dem Amerika Haus in Berlin Hunderte Schlange stehen, dann nicht, weil sie für ein Konzert gekommen sind. Wo einst US-amerikanische Kultur vermittelt wurde, sitzt heute C/O Berlin. Die Abkürzung C/O trägt zwar die örtliche Ungebundenheit im Namen, aber jetzt hat eines der wichtigsten Ausstellungshäuser für zeitgenössische Fotografie in Deutschland endlich eine feste Adresse. Gegründet wurde es im Jahr 2000 unabhängig von institutionellen Strukturen von dem Fotografen ­Stephan Erfurt, dem Designer Marc Naroska und dem Architekten Ingo Pott. Schon am früheren Standort im Alten Postfuhramt in Berlin-Mitte begründeten sie ihren Erfolg mit Schauen von internationalen Fotografie-Ikonen wie Annie Leibovitz oder Robert Mapplethorpe. Nachdem ein Investor das repräsentative Gebäude gekauft hatte, folgte eine zweijährige Zwangspause – und jetzt der Hype. Seit der Wiedereröffnung im Oktober 2014 stürzt sich das Publikum auf alles, was es hier zu sehen gibt. Auch in dem Ausstellungshaus aus den 1950er-Jahren haben die Stars der Szene einen Auftritt, im Sommer 2015 der Brasilianer Sebastião Salgado mit seinen monumentalen Naturfotografien und ab November der niederländische Starporträtist Anton Corbijn.

Von Blockbuster-Schauen wie diesen profitieren auch aufstrebende Fotokünstler. Schon 2006 etablierte C/O Berlin den Wettbewerb „Talents“: Jedes Jahr wählt eine wechselnde, international besetzte Fachjury vier junge Fotografinnen und Fotografen aus, die einen besonderen Blick auf die Gegenwart haben. Mit seinen Themensetzungen reagiert der Wettbewerb dabei auf neuste Entwicklungen in der Fotokunst und gibt ihnen eine sichtbare Plattform. Ein in Europa einzigartiges Programm. Zum Talent gekürt zu werden bringt Aufmerksamkeit und oft einen Karriereschub. Zu den Gewinnern des international ausgeschriebenen Wettbewerbs zählte zum Beispiel 2007 Tobias Zielony – heute gehört er zu den Künstlern, die auf der Biennale in Venedig den deutschen Pavillon bespielen. Nach den Ausstellungen in Berlin reisen viele Talente in die Welt – eine Kooperation mit dem Goethe-Institut macht es möglich. Bis Mitte November sind in Mexiko die Beiträge von Emanuel Mathias und Iveta Vaivode zu sehen. Beide beschäftigen sich mit dem Thema Erinnerung.

Welche Rolle das Medium für unser Gedächtnis spielt, ist eine in der jungen Fotografie viel gestellte Frage. Sie war lange auch Leitthema des Wettbewerbs. Mit „Extended Photography“ hat Kuratorin Ann-Christin Bertrand für die Ausschreibung 2015 ein ebenso aktuelles Thema gewählt, das die Fotografie heute umtreibt: Viele Nachwuchstalente streben über die Grenzen des Mediums hinaus und nähern sich Formaten wie Malerei, Installation oder Performance. Seit seiner Digitalisierung sei das Medium flexibler und fluider geworden, so Bertrands These. Mit ihren Positionen überzeugen konnten die Jury unter 300 Bewerbern Karolin Back, Sasha Kurmaz, Bianca Pedrina und Maja Wirkus. Karolin Back verfremdet Motive, um neue Bilder zu gestalten. Sasha Kurmaz’ Arbeiten sind mal Schnappschuss, mal Intervention im öffentlichen Raum. Bianca Pedrina setzt sich mit dem Wahrheitsanspruch an die Fotografie auseinander. Auch Maja Wirkus beschäftigt das Verhältnis von Bild und Abbildhaftigkeit. Die Namen sollten wir uns merken. Es kann gut sein, dass wir ihnen bald wieder begegnen, in Deutschland oder in der Welt. ▪