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Von der Kraft der Geschichten

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Auch für die deutsche Literatur ist das ein Segen.

Matthias Bischoff, 22.09.2015

Falafel, Sushi oder Döner? Niemand in Deutschland hätte 1960 diese Frage verstanden. Ein halbes Jahrhundert später sind diese Wörter vielen geläufig, deutsche Städte sind ohne arabische, ostasiatische oder türkische Restaurants nicht mehr vorstellbar. Die deutsche Küchenkultur hat das Internationale absorbiert, mixt Hausmannskost mit fernöstlichen Gewürzen und experimentiert mit verblüffenden Cross-Over-Kombinationen.

Ebendies lässt sich auch in der deutschen Literatur der Gegenwart feststellen. Es ist unübersehbar, dass sich der Literaturbetrieb in den deutschsprachigen Ländern ganz parallel zu neuen kulinarischen Vorlieben entwickelt hat. Vor allem haben sich immer mehr Menschen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, darauf besonnen, ihre eigene, neue Sicht auf die Welt in deutscher Sprache zu erzählen.

Verblüffend ist an diesem Prozess eigentlich nur, dass es so lange dauerte, bis die Stimmen der Einwanderer wirklich in nennenswerter Weise hörbar wurden. Schließlich kamen die ersten damals sogenannten „Gastarbeiter“ aus den Mittelmeerländern bereits seit den frühen 1960er-Jahren in die Bundesrepublik; Migranten aus Osteuropa, dem Nahen und Fernen Osten folgten später. Als 1985 erstmals der Adelbert-von-Chamisso-Preis für „herausragende auf Deutsch schreibende Autoren, deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist“ verliehen wurde, sprach man noch von „Ausländerliteratur“, wenig später dann von „Literatur der Migration“. Von diesem Etikett haben sich die meisten der Preisträger nach der Jahrtausendwende befreit. Längst markieren sie mit ihren Werken nicht mehr die Ränder der Gesellschaft, wenngleich sie viele ihrer Geschichten noch von dorther nehmen. Vielmehr sind sie in der Mitte angelangt. Das lässt sich an zahllosen Preisen messen – 2015 erhält Navid Kermani, Sohn iranischer Eltern, als erster Deutscher mit Zuwanderungshintergrund den renommierten Friedenspreis des deutschen Buchhandels –, vor allem aber an etlichen Bestsellerplatzierungen.

Die Namen der Chamisso-Preisträger der vergangenen Jahre lesen sich wie ein „Who’s who“ der deutschsprachigen Ge­genwartsliteratur: Zsuzsa Bánk, Sherko Fatah, Catalin Dorian Florescu, Asfa-Wossen Asserate, Olga Grjasnowa, Nino Haratischwili, Terézia Mora, Saša Stanišić, Feridun Zaimoglu. Und die Liste ließe sich fortsetzen. Ihre sehr unterschiedlichen Bücher, ob erzählende Prosa, Sachbuch oder Lyrik, sind keineswegs mit dem Etikett „Migrationsliteratur“ zu versehen, sie benutzen die deutsche Sprache ganz selbstverständlich für ihre je eigenen literarischen Sujets. Und doch ist ihre Sicht auf die Welt nicht vollständig von ihrer Herkunft zu entkoppeln. Ilija Trojanow, Chamisso-Preisträger des Jahres 2000, hat in der Einleitung zu dem Sammelband „Döner in Walhalla oder Welche Spuren hinterlässt der Gast, der keiner mehr ist?“ auf die „unermessliche Vielfalt an spannenden Biografien“ hingewiesen, die wiederum die Voraussetzung für spannende Texte seien. Und mit einem Seitenhieb gegen die oftmals erlebnisarme Literatur der „inländischen Habenichtse“ fügte er hinzu, dass damit auch der Gemeinplatz widerlegt sei, „Literatur habe mit der Biografie des Schreibenden wenig oder nichts zu tun“.

In der Tat kann ein Roman wie Saša Stanišićs „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ (2006) nicht ohne seine Erlebnisse im inzwischen zerfallenden Jugoslawien gedacht werden. Stanišićs grandioser Debütroman über Liebe und Tod im Bosnien der 1990er-Jahre wurde in nahezu 30 Sprachen übersetzt. Sein jüngster Roman spielt hingegen in der Uckermark, ein Zeichen dafür, dass sich ein Autor von Rang nicht durch seine Herkunft einengen lässt. Auch Zsuzsa Bánk hat nach ihrem in Ungarn spielenden ersten Roman „Der Schwimmer“ (2002) als Schauplatz ihres 2011 erschienenen Buches „Die hellen Tage“ ein süddeutsches Dorf gewählt. Doch spielt auch hier die ungarische Herkunft der Hauptfiguren eine wichtige Rolle. In ihrem Roman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ (2012) hat sich die junge, aus Aserbaidschan stammende Berliner Schriftstellerin Olga Grjasnowa ironisierend mit den kulturellen Vorurteilen befasst, ihre Protagonistin Mascha macht sich über das Wort „Migrationshintergrund“ lustig. Nino Haratischwili, die mit ihrem Romandebüt „Juja“ (2010) auf der Longlist des Deutschen Buchpreises sowie der Shortlist des „aspekte“-Literaturpreises des deutschen Fernsehsenders ZDF stand, erzählt in ihrem 2014 erschienenen 1000-Seiten-Epos „Das achte Leben“ eine Familiengeschichte aus der Sowjetzeit Georgiens und spannt einen Erzählbogen über das 20. Jahrhundert.

Familie ist Herkunft und Schicksal, die literarische Verarbeitung von Familiengeschichte ist somit immer auch Selbstvergewisserung, Standortsuche, Identitätsstiftung. Solche Romane sind nicht „migrantisch“, nicht deutsch, nicht amerikanisch – sie sind universell und erzählen Geschichten, die uns alle berühren, alle angehen. 70 Jahre nach dem Kriegsende und 30 Jahre nach dem ersten Chamisso-Preisträger erlebt die deutsche Literatur einen immensen Zustrom an neuen Geschichten, der das Ende der durchaus verdienstvollen und von vielen Meisterwerken geprägten deutschen Nabelschau-Literatur (Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg, deutsche Teilung) bedeutet. Ganz anders als manche Sprachpuristen glauben, definiert sich die Kraft einer Sprachgemeinschaft vor allem über ihre Fähigkeit, das Neue, das Fremde in sich aufzunehmen und zu verwandeln. Diese nicht endende Metamorphose ist ein Glück für alle, die an die Kraft der Geschichten glauben. ▪