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Vorbei sein ist anders

Warum alles nur Vorspiel zum Finale ist, weiß Musikkritiker Helmut Mauró.

29.09.2016

Jeder Anfang trägt schon das Ende in sich. Im Leben wie in der Kunst. In allem, was wir sind, tun und hinterlassen wollen. Nicht nur im Beginn wohnen die Geister, die uns kribbelnd Aufregung verschaffen. Auch am Ende sind sie noch da, beharren auf ihrer Unsterblichkeit. Es sind die gleichen Verführer, die uns zuflüstern, es gebe kein Ende, keinen Schlussstrich, keine Bilanz. Alles lebt weiter, ja freier und vielversprechender noch als zuvor. Und wenn wir die Dinge genauer betrachten, begreifen wir unsere Selbsttäuschung. Nichts endet mit dem Schluss, nichts verschwindet ins Nirgendwo – vielleicht gibt es nicht einmal das Nichts. Und wo kein Nichts ist, ist auch kein Ende. Im Grunde spüren wir längst: Nicht auf den Anfang kommt es an, sondern auf das Finale. Nicht nur im Fußballturnier ist das so, sondern auch in der klassischen Symphonie. Egal, was in den ersten Sätzen passiert, alles ist doch nur Vorspiel zum großen Finale. Dort passiert das Eigentliche: die Grenzüberschreitung, der Übertritt vom Erdigen ins Überirdische.

Die Komponisten richten dafür keinen schnuckeligen Paradiesgarten ein, sondern sie konzentrieren sich auf den Kern des Überirdischen, das logischerweise außerhalb unserer Vorstellungskraft liegt. Aber wie kann man das darstellen oder gar erfahrbar machen? Die Musiker haben einen Weg gefunden, der beides ist. Symbol und Erfahrungsmöglichkeit des Unvorstellbaren. Es ist gleichsam klingende Mathematik, vollkommene Ab­straktion und doch nachvollziehbares Bewegungsmuster in Form des klassischen Kontrapunkts. Die Schlussfuge ist noch bis einschließlich Beethoven und seinen romantischen Epigonen das Nonplusultra eines Finalsatzes. Mozart dagegen, der zwar in seiner großen Jupiter-Symphonie ebenfalls dieser Tradition virtuos huldigt, zeigt uns noch einen anderen historischen Weg. Die Sinfonia war einst lediglich die instrumentale Einleitung zur Oper. Und so kommt es, dass der Pragmatiker Mozart kurzerhand eine zweisätzige Opern­ouvertüre zur dreisätzigen Symphonie ergänzt. Genau genommen verkürzt er also die ursprüngliche Symphonie aus Instrumental- und Vokalsätzen zu einer instrumentalen Miniatur, die statt der grenzenlosen Weite und Größe des Schlusssatzes, der eigentlichen Oper nämlich, nurmehr ein flottes Kehrausfinale hat. Beethoven hat das in seiner Neunten Symphonie quasi wieder zurechtgerückt, indem er im Finale Chor und Gesangssolisten auftreten lässt. Er spürte wohl: Größe kann kein Ende haben, schon gar kein munter banales. Das Vergangene muss schlusslos gegenwärtig sein, und solange wir es benennen können, kann es nicht aus der Welt sein.

Auch Marcel Proust hat ja nicht über eine verlorene Zeit geschrieben, wie die deutsche Übersetzung unterstellt, sondern über die vergangene. Er wusste wohl, dass wir letztlich nur in der Vergangenheit leben und vor allem für sie. Außer wir raffen einmal allen Mut zusammen und besinnen uns auf das Ende und damit auf die Zukunft. Wenn wir das richtig anstellen, dann sehen wir dabei keine neuen Technologien und künstlichen Paradiese, sondern ehrlicherweise gar nichts. Als Franz Schubert seine 
B-Dur-Klaviersonate in der Gewissheit seines nahen Todes schrieb, halluziniert er den Finalsatz als frei schwingendes Klangpanorama von kosmischer Weite. Den schmerzlichen Abschied hat Schubert schon im zweiten Satz vollzogen, in einem vorausschauend überirdischen Andante frei flottierender, ­zeitlupenartiger Akkordbrechungen. Radikaler hat Frédéric Chopin diesen Seelenritt 
in seiner b-Moll-Sonate auskomponiert. Als dreiminütigen Kehraus in Höchstgeschwindigkeit. Hört man den jungen Pianisten Ivo Pogorelich dieses Finale spielen, weiß man schnell, wie eng Himmel und Hölle beieinander liegen, dass es da eine ganz kurze Verbindung gibt. Das Irisierende und flirrend Irritierende reißt einen fort, ohne einen Hinweis, wohin. Und schon ist sie wieder da, die Aufregung des Anfangs, prickelnde Panik, am Ende stärker, aufwühlender als zu Beginn. Vorbei sein ist anders. Man hat das Banale hinter sich gelassen. Das Ende? Ein Anfang. ▪