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Kunst im Exil

Das Goethe-Institut unterstützt Künstler aus Ländern, in denen es nicht mehr arbeiten kann. Den Anfang macht ukrainische Kunst.

Lauralie Mylène Schweiger, 19.10.2022
Beleuchtet: „Das Land der Kinder“ von Helen Bozhko
Beleuchtet: „Das Land der Kinder“ von Helen Bozhko © Goethe-Institut, Foto: Helen Bozhko

Aus den Fenstern des Kunsthaus ACUD in Berlin schauen Kindergesichter. Porträts, die die ukrainische Fotografin Helen Bozhko im vergangenen Jahr im Donbass aufgenommen hat. „Das sind die Gesichter von Kindern, die unter dem Krieg leiden. Der Krieg, der schon vor dem 24. Februar in der Ost-Ukraine tobte“, sagt Olga Sievers. Sie ist Kuratorin und Projektmanagerin des „Goethe-Instituts im Exil“ in Berlin. Jedes Gesicht erzählt seine eigene Geschichte. Niemand weiß, was aus den Kindern seit der Aufnahmen geworden ist. Doch zu zeigen, dass es ihre Geschichten aus der Ukraine gibt, ist das Anliegen der ukrainischen Künstlerinnen und Künstler.

Anfang Oktober 2022 startete das zweijährige Projekt „Goethe-Institut im Exil“ mit dem Eröffnungsfestival im ACUD. Ukrainische Künstler kamen zusammen, um im Berliner Exil ihre Kunst zu zeigen. Das nächste halbe Jahr soll der Fokus auf dem von Russland angegriffenen Land liegen. Sievers ukrainische Kollegen arbeiten trotz Schließung des Goethe-Instituts in Kiew digital weiter, Berlin ist ihr „Veranstaltungsarm“. Im Frühjahr ist ein ähnliches Festival für afghanische Künstler geplant. Dann folgen Veranstaltungen der anderen wegen Kriegs oder Zensur geschlossenen Goethe-Instituten in Syrien und Belarus.

Einander zuhören im Berliner Kunsthaus ACUD
Einander zuhören im Berliner Kunsthaus ACUD © Goethe-Institut, Foto: Helen Bozhko

Anknüpfungspunkte bieten

Wer seine Kunst im Exil weiterverfolgen will, braucht Anschluss: An Strukturen, Institutionen und andere Kunstschaffende. Das Berliner Goethe-Institut möchte daher Anlaufstelle und Schutzraum sein, bis die Institute in den vier Ländern wieder öffnen können. Olga Sievers macht keine Vorgaben für die Veranstaltungen: „Wir hören den Künstlern zu und schauen, was wir gemeinsam realisieren können.”

Denn die vier Länder unterscheiden sich sehr. In der Ukraine ist die Kunst frei, aber die Arbeit des Goethe-Instituts nicht mehr sicher. Neben den vielen Künstlern, die geflohen sind oder bereits seit längerer Zeit im Exil leben, nahmen für das Eröffnungsfestival viele die beschwerliche Reise aus der Heimat auf sich. Über 24 Stunden dauert jede Verbindung nach Berlin. Aus Afghanistan, Syrien oder Belarus dagegen werden voraussichtlich nur Exil-Künstler kommen oder Online-Veranstaltungen stattfinden, teilweise auch mit anonymisierten Werken.

Ein Stück Heimat

Schon beim Eröffnungsfestival habe sich gezeigt, wie viel Austauschbedarf es unter den Künstlern gibt. Viktoria Leléka, Sängerin der Jazz- und Folklore-Gruppe „Leléka“ lebt seit einigen Jahren in Berlin. Sie war jeden Tag im ACUD. „Für viele war es überwältigend, so viel von ihrer eigenen Kultur zu sehen“, erzählt Olga Sievers. Sie berichtet von geflüchteten Kindern, die zum Workshop der Illustratorin Lana Ra kamen und sofort anfingen zu malen: „Man hat ihnen angesehen: Das ist ein Stück Heimat, was sie hier in Berlin hatten.“ Und als Serhij Zhadan mit seiner Band auftrat, drängte sich das Publikum bis in den Hof. Die Textsicherheit sei bemerkenswert gewesen.

Serhij Zhadan erfreut sich auch internationaler Bekanntheit
Serhij Zhadan erfreut sich auch internationaler Bekanntheit © Goethe-Institut, Foto: Helen Bozhko

Die ukrainische Stimme

Neben Ausstellungsfläche mit Installationen und Filmen findet sich im ACUD auch ein Club. Sieben Stunden dauerte dort die „Bomb Shelter Night“, eine Performance der Gruppen DACH und Gogol-Fest. Das Konzert wurde von Sirenen durchbrochen: Die Simulation einer Partynacht in Kiew. Während das Publikum Schutz suchte, wurden Tagebuch-Einträge vom Kriegsbeginn in verschiedenen Sprachen vorgelesen. Das nicht-ukrainische Publikum konnte sich ein bisschen in diese unvorstellbare Situation hineinversetzen. „Durch die Gespräche flossen viele Tränen“, sagt Olga Sievers. Ein Awareness-Team habe sich darum gekümmert, dass keiner mit seinen Gefühlen alleine ist.

„Wie es in Charkiw aussieht, kann aus Sicht eines Autoren so viel eindrücklicher sein als eine Nachricht“, sagt Evgenia Lopata. Mit ihrem Verlag Meridian Czernowitz bestreitet sie einen wichtigen Teil des Festivals. Als Verantwortliche des Literaturprogramms reiste sie mit Autoren aus der Ukraine an: Iryna Tsilyk, Andrij Ljubka und Roman Malynowsky, die regelmäßig an der Front helfen und in ihren Texten dem Krieg eine Stimme geben. Als Sprachrohr der ukrainischen Literatur möchte Lopata die Texte so bekannt wie möglich machen, „damit die Europäer uns auch als Bürger, als eigenes Land verstehen“.

Schreibt von den ersten Angriffen Russlands: Essayist Andrij Ljubka
Schreibt von den ersten Angriffen Russlands: Essayist Andrij Ljubka © © Goethe-Institut, Foto: Helen Bozhko

Alte Narrative durchbrechen

Neben der Vernetzung haben die Künstler nämlich ein weiteres Anliegen: Zu zeigen, dass es ukrainische Kultur schon vor der Sowjetunion gab. „Meine Eltern haben ihr ganzes Leben in Czernowitz gewohnt und erst 2010 von Paul Celan gehört“, sagt Lopata. „Wir kannten nicht das Fundament, auf dem wir stehen“. Bis zur Unabhängigkeit 1991 sei so vieles verdrängt worden, was in multikulturellen Städten wie Czernowitz aufgebaut wurde. Lopata sieht das „Goethe-Institut im Exil“ auch als Möglichkeit, über das kulturelle Erbe der Ukraine zu sprechen. Das Festival mit der anschließenden Lesereise koste sie ihre gesamte Kraft. Doch die Kommunikation und das Mitgefühl ehre sie.

So wie Lopata sei es auch den anderen ergangen, meint Olga Sievers: „Niemand von denen, die wir angefragt haben, hat gesagt, das machen wir nicht“. Als am 10. Oktober Russland Kiew und weitere Städte mit Bomben und Raketen angriff, stand für die meisten Künstler die Rückreise an. Aus deutscher Perspektive sei es kaum zu begreifen, was in diesen Momenten in ihnen vorging. Aber es sei deutlich geworden, dass sie jetzt erst recht zurück wollten. Ein unglaublicher Spagat: „Es war ihnen so wichtig, das Publikum hier zu erreichen und gleichzeitig schlägt das Herz in der Ukraine.“

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