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Eine deutsche Mitte

Unter Deutschlands Städten ist Kassel vielleicht die berühmteste Unbekannte. Die Entdeckung der verkannten Schönheit der documenta-Stadt.

13.08.2012
© picture-alliance/Zucchi

Kassel hat weltweit schon so viele und so vieles bewegt, dass es eigentlich eine Berühmtheit sein müsste. Aber wer schaut schon auf das „made in“ von Lokomotiven und Waggons, von Fahrgastbrücken und Kofferkarren, von Achsen oder Hochgeschwindigkeitszügen? Kassel hat davon reichlich rund um den Globus geliefert, seit ein Glockengießergeselle namens Christian Carl Henschel hier etwas aufbaute, was später den „Drachen“ auf die Schienen des Fortschritts im 19. Jahrhundert setzte. Anderthalb Jahrhunderte später verließ die 33 333. Lokomotive in der Henschel-Nachfolge die Stadt, und sie hatte längst Konkurrenz „made in“ Kassel. Nie, zum Beispiel, sind Chinesen, erdgebunden, bisher schneller vom Fleck gekommen als in dem ebenfalls in Kassel gebauten Transrapid.

Überhaupt müsste diese kleine Stadt mit 195 000 Einwohnern den Ingenieur und Entdecker im Menschen begeistern, den Tüftler, den Vermesser von Himmel und Erde und Zeit. Denn hier, in dieser erstmals 913 urkundlich erwähnten Gemeinde, war es, dass die erste feste Sternwarte Europas eingerichtet wurde: 1560, etwa ein Jahrhundert vor Greenwich, auf dem Dach eines Schlosses. Hier, in Kassel, wurde erstmals die akkurate Messung der Sekunde möglich gemacht. Hier begann, 1588, der aus der Schweiz zugewanderte Jost Bürgi Planeten- und Globusuhrwerke zu bauen und die Logarithmen zu ersinnen. Hier führte vor dem Ottoneum, nebenbei dem ersten festen Theaterbau Deutschlands (und immer noch stehend), der aus Frankreich zugewanderte Denis Papin die erste Dampfdruckpumpe mit Kolben vor – mithin den entscheidenden Schritt zur Dampfmaschine, die Europas Industrialisierung revolutionieren sollte. Hier erstrahlten so früh und in solch einer Menge Straßenlaternen, dass selbst Deutschlands oberster Kulturrichter Goethe davon beeindruckt war. Und später unterrichtete ein gewisser Robert Wilhelm Bunsen in dieser Stadt, am Polytechnikum. Und stellte Rudolf Diesel erstmals einem größeren Kreis von Experten einen neuen Motor vor: ebenden Dieselmotor, es war das Jahr 1897.

Und die Freunde des Absolutismus? Auch sie müssten für Kassel schwärmen, falls sie die Toleranz besitzen, neben Versailles noch etwas gelten zu lassen. Es war das Jahr 1713, als der Goldschmied Johann Jakob Anthoni nach vierjähriger Arbeit jene Kolossalstatue in Kupferblech geformt hatte, die 8,25 Meter hoch, Brustumfang fünf Meter, als Herkules auf die Pyramide eines Palastes der Winde gesetzt wurde, eines wuchtigen Oktogons, das bis heute über den uralten Baumriesen im Bergpark Wilhelmshöhe thront. Von 1728 ist jenes pompöse Marmorbad in der Orangerie, mit dem der französische Bilderhauer Pierre Etienne Monnot das Hygienebegehr des Landgrafen Karl umschmeichelte. Und mit dem Vollendungsjahr 1779 ist das Museum Fridericianum das erste der Öffentlichkeit zugängliche Museum des europäischen Kontinents – nicht einmal der Louvre hatte da schon Gestalt.

War das bürgerliche Kassel blass dagegen? Nicht wirklich. 1755 wurde hier zum Beispiel jene Dorothea Pierson geboren, die den weltberühmten Brüdern Grimm immerhin 30 Märchen aus dem Volke lieferte, was nicht der einzige Grund war, dass die Grimms in Kassel ihre produktivste Zeit verlebten. Eine Kasseler Sozialisation hatte auch jener Philipp Scheidemann, der 1918 in Berlin die Republik ausrief. Und immerhin hatte diese Stadt auch als politische Kapitale der Bundesrepublik auf dem Prüfstand gestanden, was Bonn dann wurde. 1948 hatte hier ein Geheimgremium aus Finanzexperten und Juristen die Einführung der deutschen Mark vorbereitet. 1970 trafen sich in Kassel Bundeskanzler Willy Brandt und der DDR-Ministerpräsident Willi Stoph zu einem so legendären wie heiklen innerdeutschen Gespräch.

Aber wir sind nun schon zu weit. Denn Absatz eins dieser kleinen Geschichte war auch der Grund für eine Zäsur, die es Kassel für Jahrzehnte schwermachen sollte, wieder Gestalt anzunehmen. Das monströse Verbrechen des Faschismus kam mit besonderer Wucht auf jene Städte zurück, die dem nationalsozialistischen Größenwahn den Maschinenpark geliefert hatten. Und Kassel, die Stadt der Maschinen, die Stadt, in der aus Lokomotiven Panzer geworden waren und aus dem Flugpionier Fieseler ein Raketenproduzent, traf es wie nur wenige andere Städte in Deutschland. 40 alliierte Bomberangriffe, der mächtigste davon im Oktober 1943, radierten 80 Prozent der Stadt aus, inbegriffen ihr gesamtes Mittelalter. Und als es vorbei war, Kassel ein Trümmerfeld, fand es sich überdies von der Mitte Deutschlands an den Rand gerückt, in die Nähe jener „Zonengrenze“, hinter der das halbe Weltreich des Kommunismus begann. Es war Diaspora geworden, Marginalie, ferner Nordzipfel des Bundeslandes Hessen, in dessen Süden man von „Hessisch-Sibirien“ sprach, wenn man an Kassel dachte.

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat das Selbstbewusstsein Kassels für Jahrzehnte gebrochen. Und für eine lange Weile verschwand so aus dem externen wie internen Bewusstsein, welch interessantes Gesamtkunstwerk aus zerstörter Geschichte, Trotz, Sehnsucht und Hoffnung Kassel immer noch und trotz allem geblieben war. Mit einer Menge Schönheitsfehlern, die bei genauerem Hinsehen nicht unbedingt Fehler waren. Sondern Zeitzeugnis, interessante städtebauliche Erzählung, spannende Ambivalenz. Heute? Wer weiche Formen mag, moderate Schwingungen, kann schon die Annäherung an Kassel, fast egal auf welchem Kurs, für ein Allegro halten. Da sind die sanften Berge, die großen Wälder, nicht düster, nur grün. Dann ist da die Einfahrt über die rauen Seiten einer immer leicht melancholisch machenden, weil verflossenen Industrie- und Gewerbegeschichte. Und dann wiederum folgt, in der Mitte der Stadt, die große Freiheit. Offenheit, Luft, Durchsicht ohne Bedrängung. Kein Pomp, keine Aufdringlichkeit, keine Angeberei. Und viel mehr noch ist da von 1100 Jahren Geschichte, als auf den ersten Blick offensichtlich wird. Allerdings ist Kassel nicht Heidelberg, kein Silbertablett, das schnell abzuräumen wäre. Kein süßliches Rothenburg ob der Tauber.

Weshalb Kassel? Verkehrspolitiker werden darauf verweisen, dass diese Stadt seit zwei Jahrzehnten wieder in der Mitte des ganzen Deutschlands liegt, an einem wichtigen „T“ des Autobahnnetzes, das bald zu einem „X“ werden soll. Und dass es per ICE fast so schnell mit Frankfurt am Main im Süden und Hannover im Norden verbunden ist wie mancher Vorort einer Millionenstadt. Und im Rathaus ist man glücklich über Weltfirmen wie Wintershall und K+S, über das große Volkswagenwerk vor der Tür, über die geringste Arbeitslosigkeit seit Jahrzehnten, über die sensationell gute Entwicklung der Gewerbesteuereinnahmen – und ganz besonders über den nicht zuletzt von der Universität mit inzwischen deutlich über 20 000 Studenten angestoßenen Trend, die Stadt zu einem Zentrum für Zukunftstechnologien zu machen. Allein 6000 Arbeitsplätze bietet schon SMA Solar Technology, ein Institut der Fraunhofer-Gesellschaft hat hier seinen Sitz, ein Forschungszentrum für Nanotechnologie.

Endlich also scheint es im Unterbau dieser Stadt wieder zu stimmen – und das hat Auswirkungen auf den kulturellen Überbau, der sich schon immer großartig über Kassel wölbte; manchmal vielleicht so hoch, dass das eine mit dem anderen in keiner Beziehung mehr stand. Im November 2011 wurde die Neue Galerie an der nicht nur so heißenden Schönen Aussicht in neuer ­Ästhetik eröffnet, wurden dort die klassische Moderne, der deutsche Impressionismus und Joseph Beuys neu entzündet. Die Wiedereröffnung des Brüder-Grimm-Museums im Palais Bellevue steht für Januar 2012 bevor. Ein Museum der Industriegeschichte wächst seit 2002. Am Tor zur Wilhelmshöher Allee, jener sechs Kilometer langen, auf den Herkules weisenden Magistrale, wird soeben die Murhardsche Bibliothek mit ihrer wertvollen Handschriftensammlung modernisiert. Und weiter oben, wo sich der Stadtteil Wilhelmshöhe seiner Solequellen wegen seit einigen Jahren Bad Wilhelmshöhe nennen darf, wird das Schmuckstück dieser Stadt besonders eifrig poliert. Nicht weniger als 200 Millionen Euro investiert das Land Hessen in die „Museumslandschaft Kassel“, die im 550 Hektar großen Bergpark eine europaweit einzigartige Kulturlandschaft ist.

Im Schloss, einst Domizil des Jérôme Bonaparte, auch Sommerresidenz deutscher Kaiser: Antikensammlung und niederländische Meister, von Rembrandt bis Hals. In der Löwenburg: neu­gotische Ritterromantik. Dazwischen Merkur-Tempel und die Eremitage des Socrates, Apollo-Tempel und Sibylle-Grotte, die schon 1790 angelegte Roseninsel, das schon 1810 gebaute Ballhaus und die filigrane Eisen-Glaskonstruktion eines hier seit 1822 glitzernden Gewächshauses. Und noch immer in jedem Sommer erfüllt sich der Traum des Landgrafen Karl, der hier, von einer Italienreise bezirzt, eine feierliche Inszenierung von „Wasserbildern“ vor sich sah: 550 Meter über dem Meer in ­Bewegung gesetzt, durch Grotten und Becken laufend, über Kaskaden stürzend, Teiche durchströmend, über Aquädukte gelenkt, schließlich in einer 52 Meter hohen Fontäne kulminierend. Ein Spiel aus dem späten 18. Jahrhundert, nur durch ­Höhe und Fall bewegte Wasserkraft.

Das alles, so hoffen die Kasseler, wird 2013 mit einem Siegel versehen werden, das dieser Stadt im nordhessischen Bergland vielleicht sogar in Weltmetropolen mehr Aufmerksamkeit verleiht: Dann nämlich, 2013, soll ihr grandioses Hochparterre zu Füßen des Herkules als Weltkulturerbe der Unesco anerkannt sein.

Läse ein Marketing-Mensch dieses Porträt seiner Stadt, er wäre nun längst ungeduldig. Wo denn ist bisher das gefeiert, was all jene von Kassel wissen, die sonst nichts von ihm wissen? Es darf doch schließlich offiziell im Namen dieser Gemeinde getragen werden – Kassel ist „documenta-Stadt“! Seit 1955 alle fünf Jahre und 2012 zum 13. Mal gibt es die weltweit bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst ausgerechnet in Kassel! 100 Tage lang, 750 000 Besucher zuletzt. 100 Tage Räsonnement, kleine Revolutionen und spitze Resümees, Rückschau und Avantgarde, Debatte und Verzückung und Staunen, die Leichtigkeit des Seins und die Beschwernis komplizierter globaler Gedanken, hier, genau hier auf einen geographischen Punkt gebracht. 100 Tage, in denen diese Stadt seit 1955 in vollen Zügen die frische Luft der Internationalität einatmen durfte, bis ihr dann wieder die Luft ausging und sie im Gefühl des Verlassenseins ein bisschen auch seufzte. Aber immer mehr kommt nun zum Vorschein, dass die „documenta“ nicht mehr alles ist, was Kassel über sich zu erzählen hat. Und eine bessere Nachricht für diese lichte Stadt in der Mitte der großen deutschen Wälder kann es eigentlich nicht geben.

Peter-Matthias Gaede ist Chefredakteur des größten deutschen Reportage-Magazins „GEO“ und Egon-Erwin-Kisch-Preisträger. Kassel fühlt er sich bis heute eng verbunden. Dort verbrachte Gaede seine Schulzeit und sammelte erste Erfahrungen als Journalist im Kasseler Studio des Hessischen Rundfunks.