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„Die Deutschen waren sehr offen und hilfsbereit“

Vor 45 Jahren erreichten die ersten geflüchteten „Boatpeople“ aus Vietnam Deutschland. Eine vietnamesische Familie erzählt vom prägenden Neubeginn.

AutorinMiriam Hoffmeyer , 21.12.2023
Familie Trịnh mit den drei erwachsenen Söhnen
Familie Trịnh mit den drei erwachsenen Söhnen © privat

Kurz vor Weihnachten 1979 sah Tôn-Vinh Trịnh-Đỗ zum ersten Mal in seinem Leben Schnee. Im Schlafsaal des Klosterinstituts St. Dominikus in Speyer, wo er mit anderen Jungen aus Vietnam untergebracht war, herrschte große Aufregung. „Wir sind alle zum Fenster gerannt, um die Schneeflocken anzufassen“, erinnert sich der heute 57-Jährige. „Am nächsten Tag haben wir uns draußen im Schnee gewälzt. Das war das erste Mal seit meiner Flucht, dass ich völlige Unbeschwertheit gespürt habe, ganz angstfrei war.“ Als Zwölfjähriger hatte er mit mehr als 60  anderen südvietnamesischen Geflüchteten ein viel zu kleines Boot bestiegen, um aus seiner Heimat zu fliehen.

Wir haben uns im Schnee gewälzt. Das war das erste Mal seit meiner Flucht, dass ich völlige Unbeschwertheit gespürt habe, ganz angstfrei war.
Tôn-Vinh Trịnh-Đỗ

An einem Nachmittag im Dezember sitzen Tôn-Vinh Trịnh-Đỗ und seine gleichaltrige Frau Hòa Trương bei Tee und Keksen in der behaglichen Altbau-Wohngemeinschaft ihres jüngsten Sohnes, der Wirtschaftsingenieurwesen am Karlsruher Institut für Technologie studiert. Auch Hòa Trương ist aus Vietnam geflüchtet. Sie konnte 1982 mit ihren Eltern und Geschwistern im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland fliegen, wo bereits zwei ihrer Schwestern im Ursulinenkloster in Ahrweiler lebten. „Am Anfang hatte ich unerträgliches Heimweh nach Vietnam“, erinnert sich Hòa Trương. „Aber die Deutschen waren sehr offen und hilfsbereit. Wir haben Kleider und Spielzeug geschenkt bekommen und fühlten uns willkommen.“

Der erste Schnee: der geflüchtete Tôn-Vinh Trịnh-Đỗ mit anderen Kindern aus Vietnam im Klosterinstitut St. Dominikus in Speyer
Der erste Schnee: der geflüchtete Tôn-Vinh Trịnh-Đỗ mit anderen Kindern aus Vietnam im Klosterinstitut St. Dominikus in Speyer © privat

Nach Ende des Vietnamkriegs 1975 flohen rund 1,4 Millionen Südvietnamesen auf Booten aus ihrer Heimat, um Hinrichtungen, Zwangsumsiedlungen und der Internierung in kommunistischen Umerziehungslagern zu entgehen. Zehntausende „Boatpeople“ ertranken. Tôn-Vinh Trịnh-Đỗ wagte gemeinsam mit der Familie seiner Cousine die Flucht, nachdem sein katholisches Klosterinternat von der Regierung aufgelöst worden war: „Ich träumte damals davon, Priester zu werden. Und in Vietnam war es nicht mehr möglich, meinen Glauben zu leben.“

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13 Tage trieb ihr Boot über das Südchinesische Meer. Mehrmals wurden sie von Piraten überfallen, die sie nur weiterfahren ließen, weil es nichts zu stehlen gab, erzählt Trịnh-Đỗ. Essen und Wasser wurden knapp, zwei Kinder an Bord verdursteten. Endlich landete das Boot an einer indonesischen Insel, die Menschen wurden zu einer Sammelstelle des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen gebracht. „Dort hatte ich das Glück, dass mich eine einheimische Familie bei sich aufnahm“, sagt Trịnh-Đỗ. Monate später kam ein Beauftragter des Dominikanerinnenklosters aus Deutschland nach Indonesien, um vietnamesische Kinder, die ohne ihre Eltern geflohen waren, nach Speyer zu holen.

Großzügige Regelung der Familienzusammenführung

Medienberichte über das Elend der Boatpeople, die unter katastrophalen Verhältnissen in überfüllten Lagern in Südostasien lebten, führten 1978 zur Aufnahme der ersten tausend Vietnamesen in der Bundesrepublik Deutschland. Auf Drängen der Vereinten Nationen erklärte sich die Bundesregierung 1979 dazu bereit, weitere 10.000 Kontingentflüchtlinge aufzunehmen. Diese Quote wurde in den folgenden Jahren mehrfach erhöht, auch weil der Journalist Rupert Neudeck und andere Engagierte mit dem Schiff „Cap Anamur“ bis 1986 rund 10.000 Boatpeople aus dem Südchinesischen Meer retteten. Für die Vietnamesen wurde eigens die neue Kategorie der „humanitären Flüchtlinge“ geschaffen, die Familienzusammenführung wurde großzügig geregelt.

Ich war sozusagen aus dem Nest gefallen und die Nonnen und meine Pflegeeltern haben mich wieder aufgenommen.
Tôn-Vinh Trịnh-Đỗ

Auch in der Bevölkerung war die Sympathie für die Boatpeople sehr groß. Viele Familien nahmen Pflegekinder aus Vietnam auf, auch Trịnh-Đỗ kam zu einer deutschen Familie. „Nestwärme ist eines meiner deutschen Lieblingswörter“, sagt er. „Ich war sozusagen aus dem Nest gefallen und die Nonnen und meine Pflegeeltern haben mich wieder aufgenommen.“ In der ersten Zeit in Deutschland stotterte der Junge. „Das Trauma kommt schleichend in die Seele. Mir ist erst viel später in einer Weiterbildung klar geworden, dass das Gefühlsleben nach schlimmen Erfahrungen erstarrt, gewissermaßen einfriert. Ich habe damals Klavier gelernt und mein Pflegevater hat mich im Judoverein angemeldet – beides hat mir sehr geholfen.“ Als Trịnh-Đỗ 16 Jahre alt war, konnten endlich seine Eltern und seine beiden Schwestern nach Deutschland nachkommen. Die Familie hatte über Jahre mit falschen Papieren gelebt, weil der Vater, ein ehemaliger Rundfunkmoderator und engagierter Gewerkschafter, von der Regierung verfolgt wurde.

Als Boatpeople flohen viele Vietnamesen aus ihrer Heimat.
Als Boatpeople flohen viele Vietnamesen aus ihrer Heimat. © dpa/Koichi Sawada

Tôn-Vinh Trịnh-Đỗ studierte zunächst Theologie und dann Sozialpädagogik, heute ist er Bereichsleiter bei der Caritas in Ludwigshafen. Hòa Trương, ebenfalls Sozialpädagogin, arbeitet in einer Wohngruppe für psychisch kranke Menschen. Ihr ältester Sohn ist mit einem E-Commerce-Startup erfolgreich, der zweite studiert Philosophie.

Besonders stolz ist Trịnh-Đỗ darauf, dass seine Kinder sich auch sozial engagieren oder künstlerisch betätigen. Im Karlsruher WG-Zimmer des jüngsten Sohnes Việt Tân Trịnh fällt als erstes ein Keyboard auf, die Notenblätter zeigen Weihnachtslieder. „Wenn ich von der Uni nach Hause komme, entspanne ich mich beim Spielen“, sagt der 19-Jährige, der mit seiner Band oft bei privaten und öffentlichen Festen in ganz Südwestdeutschland auftritt.

Das Bedürfnis, anderen zu helfen

Einen großen Teil ihrer Freizeit widmen Tôn-Vinh Trịnh-Đỗ und seine Frau dem ehrenamtlichen Engagement in ihrer Kirchengemeinde und bei der Menschenrechtsorganisation ACAT, die sich für politische Häftlinge in Vietnam und deren Angehörige einsetzt. Nach der deutschen Wiedervereinigung, als ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter aus Ostdeutschland bundesweit auf die Kommunen verteilt wurden, gab Trịnh-Đỗ deren Kindern ehrenamtlich Unterricht. Seit 2015 engagiert er sich für Geflüchtete aus aller Welt. „Viele Boatpeople sind in Gesundheits- und Sozialberufe gegangen. Kriegskinder haben oft ein starkes Bedürfnis, anderen zu helfen“, sagt er. „Die Erfahrung, selbstwirksam zu sein und kein ohnmächtiges Objekt, ist enorm wichtig.“

Tôn-Vinh Trịnh-Đỗ mit einer Kindergruppe geflüchteter Vietnamesen beim Deutschkurs in Speyer
Tôn-Vinh Trịnh-Đỗ mit einer Kindergruppe geflüchteter Vietnamesen beim Deutschkurs in Speyer © privat

Auf die Frage, was ihnen an Deutschland am besten gefällt, nennt Hòa Trương das funktionierende soziale Netz, Trịnh-Đỗ das Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar, diesen Satz habe ich schon in der Schulzeit verinnerlicht. Eine Diktatur kann keine Heimat sein.“ Trịnh-Đỗ wird auch von Schulen eingeladen, um über die Geschichte der Boatpeople zu berichten. „Das liegt mir wirklich am Herzen. Denn die Schülerinnen und Schüler erfahren so, wie wertvoll Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind und wie viel es bedeutet, frei sprechen zu dürfen.“