Die Medaille im Gepäck
Vom deutschen Nachwuchstalent zum Medaillengewinner in Paris: Wie Leichtathlet Leo Neugebauer in Texas seine Bestform fand und welche Zukunftspläne er hat.
„Zu warm“, das dachte Leo Neugebauer, als er 2019 in Austin aus dem Flugzeug stieg. In diesem Moment war dem deutschen Leichtathleten noch nicht klar, dass er an dem für ihn perfekten Ort gelandet war.
Bei den Olympischen Spielen in Paris gewann der gebürtige Görlitzer eine Silbermedaille im Zehnkampf. Im Juni 2024 hatte Neugebauer bei den NCAA-Meisterschaften in Eugene, den Titelkämpfen der amerikanischen College- und Universitätsstudierenden, seinen eigenen deutschen Zehnkampfrekord um 125 Punkte auf 8.961 Zähler geschraubt. Damit rangiert der Weltranglistenfünfte von 2023 in der ewigen Bestenliste auf dem sechsten Platz und stellte eine neue Jahresbestleistung auf. Zudem ist er landesweit der stärkste College-Athlet und steht auf der Auswahlliste für Bowerman, die jährlich vergebene höchste Auszeichnung für Uni-Sportler. Sein Trainer an der University of Texas traut dem Deutschen noch viel mehr zu. Er könnte, sagt Jim Garnham, „wenn alles passt, Dinge erreichen, die vor ihm noch niemand geschafft hat“.
Sport und Studium perfekt kombinieren
Erstmals aufgefallen war der Sohn eines Kameruners und einer Deutschen 2017, als er Bronze bei den U18-Weltmeisterschaften gewann. Von einem Freund hörte er von der Möglichkeit eines Sportstipendiums in den USA. Je mehr er dazu erfuhr, desto attraktiver erschien es ihm, an einer der Ausbildungsstätten unterzukommen, an denen sich Sport und Studium perfekt miteinander kombinieren lassen. Einige Universitäten schaute er sich an, war in Iowa und Minnesota. Anfangs sah jeder Standort für ihn gleich aus. Austin erschien ihm als die etwas andere, die optimale Wahl.
Dank ihres erfolgreichen Footballteams, den Texas Longhorns, verfügt die University of Texas über einen Sport-Etat, der mit knapp 220 Millionen Euro größer ist als jener des gesamten Deutschen Leichtathletik-Verbandes. Neugebauer trainiert zweimal am Tag auf hochmodernen Anlagen. Für alle Disziplinen gibt es Spezialisten. Bei jedem Zwicken steht medizinisches Personal zu Verfügung, für jedes Problem, das er hat, findet er einen Ansprechpartner. Zusätzlich zum Studium bekommt er von der Uni Zuschüsse zur Miete und ein Taschengeld. Er wohnt zwei Minuten vom Campus entfernt, wo alles in wenigen Minuten zu Fuß oder mit seinem kleinen Roller erreichbar ist.
Mentoren helfen, dass die Studierenden auch im Studium klarkommen, denn nur dann dürfen sie ihren Sport treiben. Assistenten schreiben Neugebauer Tages- und Lernpläne. Auch um Kleidung, neue Kontaktlinsen oder eine ausgewogene Ernährung kümmern sich diese Unterstützerinnen. „Man hat hier so viele Hilfsmittel, das ist definitiv ein Vorteil, den ich gerne mitnehme", sagt Neugebauer. Seinen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften hat er geschafft. Mit dem Studium endet auch seine Aufenthaltsgenehmigung. Neugebauer will in den USA bleiben. „Es macht keinen Sinn, mein working system zu ändern“, sagt er.
Das Lebensgefühl in Austin genießen
Das warme Wetter in seiner Wahlheimat hat er lieben gelernt, die Stadt findet er großartig. „In jedem einzelnen Jahr, in dem ich hier bin, bin ich glücklicher, dass ich diese Entscheidung getroffen habe“, sagt Neugebauer. An der Uni trifft er Topathletinnen und -athleten aus anderen Sportarten, sieht Olympiasieger vorbeischlendern, sitzt beim Essen neben ihnen. „Ich bin ein ganz normaler Typ unter diesen großartigen Sportlern hier“, schwärmt er. Die Möglichkeiten der Großstadt nutzt der aus einem Dorf bei Stuttgart stammende Deutsche ausgiebig, geht Kartfahren, spielt Golf und besucht Comedy Shows. Seine Lieblingsorte sind Cafés. Er genießt das ganz besondere Lebensgefühl in der Stadt am Colorado River, wo „alle immer irgendwie gute Laune haben". Dieser Vibe gefalle ihm. Die Uni sei für ihn wie eine Familie.
Wenn „Leo the German“, so sein Spitzname, morgens um 6 Uhr aufsteht, wirft er noch vor dem Frühstück, der ersten von sieben Mahlzeiten am Tag, einen Blick auf seinen Tagesplan. „Ich mag es, Struktur zu haben“, sagt Neugebauer. In seinem Zimmer hängen lauter Zettelchen mit Dingen, die er plant: Mentales Training, morgens eine ganze Flasche Wasser trinken oder Jazz hören, steht da. Vieles schafft er nicht, regelmäßig in seinem Alltag unterzubringen. „Aber ich mag es, Listen zu schreiben“, zweimal pro Woche verbringe er etwa zehn Minuten damit.
Auf dem Weg zum Campus macht er oft noch einen Abstecher zu einem Platz hinter der Bibliothek. Hier entstehen Selfies mit dem Outfit des Tages, die der modebewusste junge Mann in den sozialen Medien postet. Seit er in den USA lebt, hat sein Engagement in diesem Bereich deutlich zugenommen. Mehr als 290.000 Follower schauen sich an, was er treibt. „Das gibt mir etwas zu tun, woran ich arbeiten kann außerhalb des Sports“, sagt Neugebauer. „Ich liebe es, kreativ zu sein.“
Potenziale im American Football
Seine Erscheinung, die Körperlänge von zwei Metern und der für einen Zehnkämpfer untypisch schwere Bau, kombiniert mit seinen herausragenden Werten hat schon zahlreiche Footballtrainer auf den Plan gerufen, die ihn gerne abwerben würden. „Wenn er in den USA aufgewachsen wäre, wäre er nie bei der Leichtathletik gelandet“, glaubt Garnham. Dann wäre er erste Wahl für die National Football League, die NFL, gewesen. Aber jetzt sei Neugebauer zu gut für einen Wechsel. Doch wer weiß, sagt der Wahl-Amerikaner selbst: Vielleicht fange er nach seiner Laufbahn als Leichtathletik-Allrounder doch noch mit Football an. In den USA gebe es für ihn so viele Möglichkeiten.