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Diplomatisches 
Glanzstück

Diplomatisches Glanzstück: Der Zwei-plus-Vier-Vertrag regelt in zehn Artikeln die außenpolitischen Aspekte und die sicherheitspolitischen Bedingungen der Wiedervereinigung.

Gregor Schöllgen, 19.06.2015

Keiner hatte damit gerechnet. Niemand hatte den Fall der Mauer vorhergesagt. Zwar forderte das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland seit 1949 die Deutschen auf, die Einheit und Freiheit ihres Landes in „freier Selbstbestimmung“ zu „vollenden“. Auch hatten führende Politiker wie Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher selbst in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre immer wieder betont, dass die Teilung Deutschlands ein unnatürlicher Zustand sei und irgendwann überwunden werde. Aber dass dies schon sehr bald so weit sein könnte, nahmen auch sie nicht an, als Michail Gorbatschow, Ge­neralsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjet­union, Mitte Juni 1989 in die Bundesrepublik kam und dort in einer gemeinsamen Erklärung mit Helmut Kohl feststellte: „Das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten, muss sichergestellt werden.“ Damit reagierte der Generalsekretär auf die Unabhängigkeitsbestrebungen vieler Völker in seinem Machtbereich. Einen Fall der Deutschland und Berlin teilenden Mauer oder gar eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten hatte er allerdings keinesfalls im Sinn. Man kann das verstehen, denn sowohl die Teilung des Landes als auch die Abtretung seiner östlich von Oder und Neiße gelegenen Gebiete an Polen beziehungsweise die Sowjetunion waren ja der Preis, den Deutschland und die Deutschen für die Politik und Kriegführung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und insbesondere für den Eroberungs-, Beute- und Vernichtungsfeldzug der Jahre 1939 bis 1945 zu zahlen hatten. Wer die Mauer durchlässig machen oder gar überwinden wollte, musste die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs anerkennen – und brauchte die Zustimmung der alliierten Sieger. Den ersten Schritt tat die Bundesregierung zwischen 1970 und 1972: In Verträgen mit der Sowjetunion, Polen und der DDR bestätigte man unter anderem die Tatsache der deutschen Teilung und akzeptierte die Grenze entlang Oder und Neiße als die Westgrenze Polens.

Indessen war die Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zu einer Demarkationslinie geworden, an der sich die vormals gegen Hitler-Deutschland verbündeten Mächte als Gegner im nunmehr Kalten Krieg gegenüberstanden. Angesichts der nuklearen Hochrüstung mit ihrem Eskalationspotenzial hatten die Sowjetunion auf der einen, die USA, Großbritannien und Frankreich auf der anderen Seite ein Interesse daran, dass sich am Status quo in Mitteleuropa einschließlich der Teilung Deutschlands nichts änderte. Zwar fungierten die vier seit Mitte der 1950er Jahre nicht mehr als Besatzungsmächte, aber bezogen auf eine Vereinigung Deutschlands, hatten sie sich das letzte Wort vorbehalten.

Das war die Lage, als sich die Völker im sowjetischen Machtbereich seit Mitte der 1980er-Jahre gegen sowjetische Vor- und kommunistische Zwangsherrschaft erhoben. Die Menschen in der DDR gehörten anfänglich nicht zu den treibenden Kräften dieser Bewegung, deren Symbol die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarność wurde. Sie nutzen dann aber deren Dynamik und die Schwächen des Kreml wie auch der eigenen Staats- und Parteiführung und gingen seit dem Frühjahr 1989 auf die Straße und forderten immer nachdrücklicher das Recht auf Reisefreiheit.

Als ein mit der Situation völlig überforderter Vertreter des DDR-Politbüros am Abend des 9. November 1989 auf Nachfrage erklärte, dieses Recht gelte ab sofort, und sich die Ost-Berliner daraufhin in Scharen auf den Weg machten, um direkt an der Mauer zu überprüfen, wie es um die Wahrheit der Meldung bestellt sei, öffneten die verunsicherten Grenzsoldaten die Schlag­bäume. Das war der Anfang vom Ende der Mauer. Mit diesem Ereignis – als Ergebnis von Zufall, Chaos, Druck und Ratlosigkeit – hatte noch Stunden zuvor niemand gerechnet. Kanzler Kohl zum Beispiel hielt sich gerade in Polen auf. Entsprechend ratlos waren alle – in Deutschland, in Europa und in der Welt. Sicher ist nur, dass in den Tagen und Wochen nach dem Vorfall so gut wie niemand an eine baldige Wiedervereinigung dachte. Als diese dann infolge des Drucks der Menschen in der DDR doch auf die Tagesordnung kam, gab es zunächst auch kaum jemanden, der sich vorstellen konnte, in welchem atemberaubenden Tempo sich alles Weitere vollziehen würde: Gerade elf Monate nach dem Fall der Mauer konnten die Deutschen die Vereinigung ihres Landes feiern.

Dass es so schnell zu einem ursprünglich von den Deutschen nicht mehr erwarteten und von den vormaligen Siegermächten nicht mehr gewollten Ende dieser Geschichte kam, hat vielfältige, ineinandergreifende Gründe. Dazu gehörte vor allem der rasante Auflösungsprozess des sowjetischen Imperiums, der inzwischen auch die Sowjetunion selbst erfasst hatte und von dem man nicht wusste, wohin er führen würde. Vor diesem Hintergrund wurde eine geordnete Vereinigung Deutschlands für viele über Nacht vom Albtraum zum Lichtblick. Hinzu kam, dass der amerikanische Präsident George Bush sehr früh signalisierte, diese Lösung der deutschen Frage unter bestimmten Voraussetzungen zu favorisieren. Schließlich nutzten Bundeskanzler Kohl, Außenminister Genscher und das Auswärtige Amt die Gunst der Stunde und setzten – im Schulterschluss mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs und flankiert von der DDR – die Vereinigung politisch und administrativ ins Werk.

Schon am 13. Februar 1990 erklärten die Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, der DDR, der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens und Frank­reichs, alsbald „die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen ­Einheit“ besprechen zu wollen. Außenminister Genscher führte die Verhandlungen für Bonn. DDR-Außenminister war der Pastor und Bürgerrechtler Markus Meckel, der im Herbst 1989 die ostdeutsche Sozialdemokratie wiedergegründet hatte. Mithin wollten sie in sogenannten „Zwei-plus-vier“-Verhandlungen dafür sorgen, dass am Ende nur noch fünf von ihnen übrig bleiben, weil der Sechste, die DDR, friedlich und einvernehmlich die Bühne verlassen haben werde. Dass es so kam, dass am Ende der Verhandlungen ein dauerhaft tragfähiger Vertrag unterzeichnet und die Vereinigung Deutschlands vollzogen wurde, lag vor allem an dem kleinen Kreis, in dem er verhandelt wurde. Weil die sechs nicht über einen Friedensvertrag sprachen, mussten auch nicht alle jene rund 40 Staaten eingeladen werden, die sich zum Zeitpunkt der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands im Frühjahr 1945 mit diesem im Kriegszustand befanden. Damit wiederum konnten potenziell brisante Fragen, wie die Forderung nach Reparationszahlungen, ausgeblendet werden. Aus Sicht der sechs war dieses Thema während der 1950er und 1960er Jahre in einer ­Serie von Abkommen abschließend geregelt worden. Lediglich eine Ausnahme ließen die sechs Außenminister zu: An ihrem Pariser Treffen nahm Mitte Juli 1990 zeitweise auch ihr polnischer Kollege Krzysztof Skubiszewski teil. Weil kaum ein zweites Land in den vergangenen beiden Jahrhunderten unter der Politik und Kriegführung seiner Nachbarn so gelitten hat wie Polen, konnte es seine Forderung nach der „Unverletzlichkeit“ der deutsch-polnischen „Grenze jetzt und in Zukunft“ einbringen und durchsetzen.

Das Pariser Treffen war das dritte von insgesamt fünf Konferenzen der sechs Außenminister. Der Anfang wurde am 5. Mai 1990 in Bonn gemacht. Vor- und nachbereitet wurden diese Gesprächsrunden in den Ministerien. Dort leis­teten die Politischen Direktoren und ihre Stäbe Schwerstarbeit. Spielte sich diese in der Regel hinter verschlossenen Türen ab, verfolgte das Publikum interessiert, mitunter auch mit angehaltenem Atem, was sich für alle sichtbar auf der Bühne der Weltpolitik tat. Das galt für die Treffen der Außenminister, und es galt natürlich auch für Begegnungen der Staats- und Regierungschefs. Mitunter im Tagesrhythmus sah man sich bei den Zusammenkünften der Europäischen Gemeinschaft, der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) oder auch der NATO, und natürlich gab es eine Serie bilateraler Treffen. Aus deutscher Sicht ging es vor allem darum, die zum Teil heftigen Widerstände nicht zuletzt der eigenen Verbündeten Großbritannien und Frankreich zu entkräften.

Am Ende blieb nur noch das sowjetische Nein. Immerhin sollte der Kreml einer Vereinigung des Landes und dessen Aufnahme in die NATO ausgerechnet in einem Augenblick zustimmen, in dem die Sowjetunion vor der Implosion stand. Die Bündniszugehörigkeit Deutschlands wurde daher zur zentralen Frage. Seit Juni zeichnete sich hier ein Einlenken der UdSSR ab. Am 14. Juli flog Kanzler Kohl nach Moskau und von dort gemeinsam mit Gorbatschow in dessen Heimat, den Kaukasus. Bereits vor dem Weiterflug signalisierte der Generalsekretär seine Zustimmung zur gesamtdeutschen NATO-Mitgliedschaft. Öffentlich wurde dies am 16. Juli auf einer gemeinsamen Pressekonferenz in Schelesnowodsk. Gorbatschow sicherte dort auch den Abzug der sowjetischen Truppen bis 1994 zu. Deutschland verspricht die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen, Truppenreduzierung, dauerhaften ABC-Waffen-Verzicht sowie umfangreiche wirtschaftliche Hilfen. Damit war der Weg frei für die abschließenden Verhandlungen der sechs Außenminister. Am 12. September wurde der Vertrag in Moskau unterzeichnet, am 1. Oktober 1990 verzichteten die vier Mächte in einer gemeinsamen Erklärung in New York auf ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Deutschland, wodurch das Land seine volle Souveränität erhielt. Drei Tage später wurde der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik vollzogen. Das vereinte Deutschland und die drei Westmächte ratifizierten zügig den Zwei-plus-vier-Vertrag. In Moskau ratifizierte der Oberste Sowjet nach kontroverser Debatte am 4. März 1991 das Abkommen. Die Ratifikationsurkunde übergab Botschafter Terechow am 15. März 1991 an ­Außenminister Genscher, erst dadurch trat der Vertrag in Kraft. Nach der Auflösung der Sowjetunion übernahm Russland die Pflichten der ehemaligen UdSSR aus den Verträgen mit Deutschland. Als im August und September 1994 die letzten alliierten Truppen Berlin verließen, war die Nachkriegszeit unwiderruflich zu Ende.

Der Zwei-plus-vier-Vertrag ist kein Friedensvertrag, übernimmt aber dessen Funktion. Er umfasst „die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins“. Erstmals seit 1945 gab es wieder einen nach innen wie nach außen vollständig souveränen Staat und mit ihm eine bislang nicht bekannte internationale Verantwortung. Dass Deutschland ihr seither in einem Maße gerecht geworden ist, das dem Land Respekt einträgt, liegt auch an der Belastbarkeit jenes Vertrages. Denn der Vertrag bildet die politische wie rechtliche Grundlage für die Rolle, die Deutschland – von den Deutschen ursprünglich nicht angestrebt – heute in der Weltpolitik spielt. Dass der Vertrag ausnahmslos auch von denen akzeptiert wird, die nicht an den Verhandlungen teilgenommen haben, ist von besonderem Gewicht. Ohne diesen Rückhalt könnte Deutschland weder seinen Verpflichtungen im Rahmen einer ganzen Reihe von Missionen der Weltgemeinschaft – auch militärischer Natur – nachkommen, noch könnte die deutsche Außenpolitik an der Seite der fünf Vetomächte des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen im Nuklearkonflikt mit dem Iran verhandeln oder eine führende Vermittlerfunktion im russisch-ukrainischen Konflikt einnehmen. Um nur diese Beispiele zu nennen. Das spricht für die Leistungsfähigkeit der Diplomatie auch in einer Extremsituation wie dem Zusammenbruch der alten Weltordnung. Und es spricht für die Bereitschaft der Deutschen, ihre Lehren aus der Geschichte zu ziehen und die Rolle zu übernehmen, die ihnen mit der Vereinigung durch die Völkergemeinschaft zugewiesen worden ist. ▪

PROF. DR. GREGOR SCHÖLLGEN ist Historiker und 
Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg.