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„Zuerst hatte ich Angst“

Ein Dossier zum 25. Jahrestag des Mauerfalls. In Teil 7 berichtet Günter Oesterreich aus Leipzig, wie er den Mauerfall und die Wendezeit erlebt hat.

16.05.2014
Matthias Juegler - Guenter Oesterreich
Matthias Juegler - Guenter Oesterreich © Matthias Juegler - Guenter Oesterreich

„Ich sitze mit meiner Frau im Wohnzimmer auf dem Sofa, der Fernseher läuft und ich denke: Nein, das kann nicht wahr sein. Sie übertragen eine Pressekonferenz. Es ist der 9. November 1989. Eine Stimme sagt, die Grenzen seien ab sofort geöffnet. Ich habe mich nicht gefreut, nein, überhaupt nicht. Zuerst hatte ich Angst. Man denkt ja an so vieles. Zum Beispiel: Was ist, wenn jetzt die Russen eingreifen, weil die sich das nicht gefallen lassen wollen? Wird es also einen neuen Krieg geben? Der kleinste Konflikt hätte ja schon gereicht. Das muss man sich mal vorstellen: Die Mauer ist fast 30 Jahre lang die sicherste Grenze der Welt, und auf einmal soll all das nicht mehr sein – nein, ich konnte das nicht glauben. Meine Frau, die Töchter, wir hatten alle Angst.

 

Wochen später erst habe ich realisiert, dass wir jetzt ein Deutschland sind, und das war ein wunderschöner Moment: Ich bin mit meinem Wartburg über ein braches Feld gefahren, um zu einem der provisorisch geschaffenen Grenzübergänge zu kommen. Es war ja wie eine Invasion – viel zu viele, die zur gleichen Zeit in den Westen wollten. Ein Meer aus Autos und alle verließen die Straße und fuhren querfeldein zu diesem Grenzübergang. Jeder voller Neugier. Erst, als ich mit meinem Auto dann drüben im Westen war, erst dann habe ich Freude empfinden können, reine Freude. Von Angst keine Spur mehr. Ich wusste: Es wird keinen Krieg geben. Wir sind ein Land und ich kann mich frei bewegen, ohne Strafen befürchten zu müssen.

 

Ich hatte Glück. Viele Menschen sind Verlierer, sogenannte Wendeverlierer, und hatten von heute auf morgen keine Arbeit mehr. Und das auf Dauer. Auch meinen Betrieb haben sie geschlossen, gleich nach dem Mauerfall, aber ich habe schnell wieder etwas gefunden. Ich weiß das sehr zu schätzen. Vielen ging es anders. Ich kenne Leute, die mir sagen: Ich fühle mich als Ostdeutscher wie ein Mensch zweiter Klasse. Weil es noch oft geringeren Lohn im Osten gibt und eine höhere Arbeitslosigkeit. Ich denke aber positiv. Jetzt, 25 Jahre nach dem Mauerfall, fühle ich mich nicht mehr als Ostdeutscher. Ich bin Deutscher. Wie sagte Willy Brandt so schön: Es wächst zusammen, was zusammen gehört. Und da hat er recht.“

 

Günter Oesterreich wurde 1935 in Chemnitz geboren. Nach der Bombardierung der Stadt im Zweiten Weltkrieg flüchtete er mit seinen Eltern ins Erzgebirge. Dort ließ er sich später zum Industriekaufmann ausbilden. Seit 1957 lebt er in Leipzig, wo er jahrzehntelang als Diplom-Finanzwirtschaftler gearbeitet hat. Bis 1994 war er ökonomischer Leiter der Leipziger Taschenfabrik. Günter Oesterreich hat eine Frau und zwei Töchter.

 

Protokoll: Matthias Jügler

 

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