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1871: Die Reichsgründung

Das zweite Deutsche Reich war eine konstitutionelle Monarchie. Der Reichstag wurde als gewählte Volksvertretung – mit eingeschränkten Rechten – neu geschaffen.

Heinrich August Winkler, 14.09.2018
Reichsgründung
© picture-alliance / akg-images

In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts fiel die Entscheidung für den Vorrang der Einheit vor der Freiheit auch in Deutschland. Das war das Ergebnis jener „Revolution von oben“, mit der der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck (1815–1898) die deutsche Frage auf seine Weise löste. Die innenpolitische Machtfrage entschied er durch den preußischen Verfassungskonflikt der Jahre 1862 bis 1866 zugunsten der Exekutive und gegen das Parlament; die außenpolitische Machtfrage wurde durch den Krieg von 1866 im kleindeutschen Sinn, also unter Ausschluss Österreichs, und im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 gegen die Macht beantwortet, die bis dahin ein Veto gegen die Errichtung eines deutschen Nationalstaats eingelegt hatte: das Frankreich Napoleons

Der Sieg über Frankreich 1870/71 führte zur Gründung des zweiten Deutschen Reichs und zur Kaiserproklamation Wilhelms I. in Versailles. Ein Ziel der Revolution von 1848 war damit erreicht: das der Einheit. Bismarck blieb Ministerpräsident und wurde zugleich Reichskanzler. Die Forderung nach Freiheit aber, sofern man darunter vor allem eine dem Parlament verant­wort­liche Regierung verstand, blieb unerfüllt. Die Freiheitsfrage hätte Bismarck selbst dann nicht im Sinne der Liberalen lösen können, wenn das seine Absicht gewesen wäre: Eine Parlamentarisierung widersprach nicht nur elementar den Interessen der Trägerschichten des alten Preußen – seiner Dynastie, seines Heeres, seiner Ritter­guts­besitzer, seines hohen Beamtentums. Sie widersprach auch den Interessen der anderen deutschen Staaten, obenan Bayern, Sachsen, Württemberg. Ihnen stand in Gestalt des Bundesrates ein wesentlicher Anteil an der Exekutivgewalt im Deutschen Reich zu, und diese Macht wollten sie nicht zugunsten des Reichstags aufgeben.

Der Reichstag wurde aufgrund des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für Männer gewählt, die das 25. Lebensjahr vollendet hatten. Das entsprach den Bestimmungen der niemals in Kraft getretenen Reichsverfassung von 1849 und gab den Deutschen mehr demokratische Rechte, als sie damals die Bürger liberaler Mustermonarchien wie Großbritannien oder Belgien genossen. Man kann infolgedessen von einer Teil­demo­krati­sierung Deutschlands im 19. Jahrhundert oder, bezogen auf die Gesamt­dauer des Kaiserreiches, von einer ungleichzeitigen Demokratisierung sprechen: Das Wahlrecht wurde vergleichsweise früh, das Regierungssystem im engeren Sinn spät demokratisiert.

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