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Krisen jenseits der Aufmerksamkeit

In allen Weltregionen gibt es Konflikte, die von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden. Das kann verheerende Folgen haben.

Friederike Bauer , 03.05.2023
Oft fließt weniger Geld in die Regionen, die nicht im Fokus stehen.
Oft fließt weniger Geld in die Regionen, die nicht im Fokus stehen. © picture alliance/dpa

Yasin lebt im größten Flüchtlingslager der Welt – in Cox's Bazar. Es liegt im südlichen Bangladesch. Wie Yasin haben dort seit 2017 fast 900.000 Menschen aus dem benachbarten Myanmar Zuflucht gesucht; verteilt auf verschiedene Camps, von denen das größte Kutupalong heißt. 

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Sie wohnen in provisorischen Unterkünften, Zelten und Hütten, dicht an dicht, oft ohne fließendes Wasser, und warten auf eine Möglichkeit, entweder zurück in ihre Heimat oder anderswo hingehen zu können. Die meisten von ihnen sind Rohingya, Musliminnen und Muslime aus Myanmar. Dort erkennt man sie nicht als einheimische Bevölkerungsgruppe an; deshalb flohen sie, vom Militärregime verfolgt, in großer Zahl nach Bangladesch.

Dringend auf Hilfe von außen angewiesen

Yasin ist ein junger Mann mit Träumen – aller widrigen Umstände zum Trotz. Er möchte Übersetzer und Arzt werden, anderen helfen. Weil es im Camp keine formale Bildung gibt, nutzt er die Zeit, um Englisch zu lernen, meist über YouTube-Videos und andere Online-Angebote. Mittlerweile hat er sich einen großen Wortschatz aufgebaut. Weil er der Ansicht ist, dass Bildung Menschen neue Chancen verleiht, reicht er sein Wissen weiter: Yasin unterrichtet ehrenamtlich Englisch im Camp und lindert so das große Leid dort wenigstens ein bisschen. Denn es dauert auch sechs Jahre nach dem großen Exodus weiter an.

Den Menschen fehlt nicht nur eine Perspektive, sie kämpfen auch ganz konkret ums Überleben: zu wenig Gesundheitsdienste, mangelhafte Wasserversorgung und immer wieder Nahrungsmittelengpässe. Und das weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit, obwohl sie dringend auf Hilfe von außen angewiesen sind.

Immer häufiger sind Naturkatastrophen die Ursache

So beklagenswert die Zustände in Cox's Bazar sind, es handelt sich mitnichten um einen Einzelfall. In vielen Regionen spielen sich stille Dramen ab, die überwiegend ungehört bleiben. In Haiti oder Venezuela, in Burkina Faso oder Burundi, in der Demokratischen Republik Kongo oder in Jemen, Südsudan oder Libanon. Mal sind interne Konflikte die Ursache, mal äußere Umstände wie Dürre oder Fluten, immer häufiger als Folge des Klimawandels.

Rund 300 Millionen Menschen waren Ende 2022 von humanitärer Hilfe abhängig, die meisten von ihnen lebten jenseits der öffentlichen Aufmerksamkeit. Je nach Rechenart gibt es zwischen zehn und 20 solcher Krisen-Hotspots auf der Welt, die es trotzdem nicht in die Hauptnachrichtensendungen der meisten Länder schaffen. Fast scheint es so, als könnte die Welt immer nur einige ausgewählte Krisen verfolgen und wahrnehmen. Derzeit verfolgt die internationale Öffentlichkeit vor allem den Krieg in der Ukraine und die Folgen des Erdbebens in der Türkei und in Syrien. Alles andere findet kaum Beachtung.

Wenig Aufmerksamkeit bedeutet auch wenig Geld

Das bleibt nicht ohne Folgen. Häufig fließt auch weniger Geld in solche Regionen. Beispiel Südsudan: Bedingt durch den Klimawandel erlebt das Land immer wieder schlimme Fluten. 2021 stand sogar die Hälfte aller Bezirke unter Wasser, 850.000 Menschen waren betroffen. Ihre Häuser wurden einfach weggeschwemmt, ihre Lebensgrundlagen zerstört, ebenso wie ihre Hoffnungen.

Hinzu kommen zahlreiche Konflikte zwischen Stämmen und Gruppen. Alles zusammen führt zu einer komplizierten Gemengelage, die das Land instabil und verletzlich macht und immer wieder auch Hungersnöte auslöst. Aus eigener Kraft kann Südsudan das Leid nicht lindern. Doch der Geldstrom aus dem Ausland ist nicht stark genug: Nach Berechnungen von OCHA, dem Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, ist die internationale Hilfe in  Südsudan derzeit um gut 72 Prozent unterfinanziert. Ähnliches gilt für Jemen mit 80 Prozent, Somalia mit 90 Prozent und Mali mit 64 Prozent. Die Liste ließe sich lange fortsetzen.

Potenzial für den nächsten Großkonflikt

Auch Libanon ist überfordert, und zwar mit einem eigentlich internationalen Problem. Das Land stemmt eine gigantische Zahl von Geflüchteten: Hunderttausende Syrerinnen und Syrer haben sich in den vergangenen Jahren ins Nachbarland gerettet; mittlerweile ist jeder siebte Einwohner ein Geflüchteter. Dazu kommen politische Verwerfungen und eine Wirtschaftskrise samt galoppierender Inflation, so dass sich dieses einst wohlhabende Land im Nahen Osten mittlerweile in einem schon viel zu lange andauernden Abwärtstrend befindet.

Doch nur weil die internationale Öffentlichkeit nicht überall hinschaut und nicht tatkräftig genug hilft, sind diese Krisen noch lange nicht „harmlos“ oder lokal begrenzt. Überall kann sich der nächste Großkonflikt entwickeln. Auch die Ukraine blieb jahrelang vom politisch-strategischen Radar verschwunden. Wer weiß, wohin sich die Rohingya-Krise noch entwickelt? Oder die instabile Lage in Libanon?

Aus der Vergangenheit lernen

Ein Blick noch weiter zurück in die Geschichte zeigt: Den Konflikt in Ruanda, der 1994 zu einem schrecklichen Genozid führte, hatte man damals überhaupt nicht im Blick. Er hat die Vereinten Nationen anschließend jahrelang intensiv auf allen Ebenen beschäftigt.

Auch Irak hatte man in den neunziger Jahren nicht als nächstes Konfliktgebiet im Visier. Als der Krieg dort schließlich eskalierte, kostete er die internationale Staatengemeinschaft viel Geld und Kraft und stellte vor allem den Westen vor eine schmerzhafte Zerreißprobe. Diese selektive Wahrnehmung mag angesichts der vielen derzeitigen Herausforderungen erklärbar sein, aber sie ist menschlich ungerecht, ökonomisch kurzsichtig und (geo-)politisch gefährlich.

 

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Das Auswärtige Amt hat deshalb eine Kampagne initiiert, die jene stillen Krisen wieder stärker ins Licht der Öffentlichkeit rückt: „In den Fokus“ wird umgesetzt von zahlreichen Nichtregierungsorganisationen, darunter etwa Caritas International, Terre des Hommes und Kindernothilfe. Partner ist auch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Mehr dazu hier.