Gemeinsame Hilfe für krebskranke Kinder in Polen und Deutschland
Das grenzübergreifende Projekt Temicare setzt Maßstäbe für Kooperation: Gebündeltes Wissen deutscher und polnischer Kliniken verbessert die Heilungschancen.
Ein Spaziergang in einer Konferenzpause hat das Leben krebskranker Kinder im deutsch-polnischen Grenzgebiet verändert. Professor Holger Lode von der Universitätsmedizin Greifswald und Professor Tomasz Urasiński von der Pommerschen Medizinischen Universität Stettin wollten sich eigentlich nur kurz die Beine vertreten. Die Spezialisten für die Behandlung krebskranker Kinder kannten sich bereits, denn seit Anfang der 2000er-Jahre trafen sich Fachärztinnen und -ärzte im Grenzgebiet vier Mal im Jahr. Während ihres Spaziergangs erträumten sich die beiden Professoren eine bessere Welt für ihre jungen Patientinnen und Patienten: mit einem konkreten und häufigen Austausch des medizinischen Personals, mit gemeinsamen Aus- und Fortbildungen, mit umfassender Betreuung der Eltern.
Gerade für die Behandlung krebskranker Kinder ist Erfahrungsaustausch wichtig. „Krebs ist bei Kindern insgesamt sehr selten. Die Wahrscheinlichkeit für ein Kind innerhalb der ersten 18 Jahre eine bösartige Erkrankung zu erleiden beträgt 0,3 Prozent. Dennoch ist Krebs die am häufigsten auftretende tödliche Krankheit und nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache bei Kindern“, erklärt Professor Lode. „Die Komplexität ergibt sich aus der Seltenheit der über 100 verschiedenen Formen von Krebserkrankungen bei Kindern, die sich komplett von denen bei Erwachsenen unterscheiden.“ Diagnose und Behandlung krebserkrankter Kinder könne von einer engeren Zusammenarbeit nur profitieren – darin waren sich Lode und Urasiński einig. „Für eine optimale Versorgung der Kinder ist eine enge nationale und internationale Vernetzung erforderlich“, unterstreicht Lode. So wurde das grenzüberschreitende Projekt Temicare während eines Spaziergangs in einer Konferenzpause geboren.
Denn Lode und Urasiński ließen den Träumen Taten folgen, arbeiteten einen gemeinsamen Förderantrag aus und bekamen von der Europäischen Union schließlich die Mittel, um 2019 als Projektleiter Temicare ins Leben zu rufen, das „Telemedizinisch integrierte deutsch-polnische Kinderkrebszentrum in der Euroregion Pomerania“. Seither wird die Zusammenarbeit von der Europäischen Union aus dem Fonds Regionale Entwicklung (EFRE) kofinanziert. Temicares erklärtes Ziel: die Versorgung bösartigen Tumor- und Bluterkrankungen bei Kindern und Jugendlichen in der Region zu beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze verbessern. Dabei werden Wissen und Technologien aller Beteiligten gemeinsam zur Diagnose, Behandlung und Weiterbildung genutzt. Der digitale, telemedizinische Ansatz ermöglicht häufige Treffen und schnellen Austausch. Temicare ist also ein telemedizinisch ausgerichtetes grenzübergreifendes Kinderkrebszentrum. „Auch durch unsere Vernetzung erreichen wir heute eine Heilungschance von über 80 Prozent der an Krebs erkrankten Kinder“, sagt Lode.
Temicare agiert im Wesentlichen auf drei Ebenen. Einmal in der Woche besprechen Ärztinnen und Ärzte den Uni-Kliniken Greifswald, Stettin (mit zwei Einrichtungen) sowie des Kollegiums Medicum der Jagiellonen -Universität in Krakau Diagnosen und Behandlungsmöglichkeiten, bei Bedarf auch mit den Eltern. „Diese Zusammenarbeit ist eine großartige Gelegenheit, unsere Erfahrungen auszutauschen und zu sehen, wie unterschiedlich wir manchmal vorgehen“, sagt Dr. Aleksandra Wieczorek von der Jagiellonen-Universität. Dabei helfe es ungemein, sich bei schwierigen Varianten mit spezialisierten Experten wie Professor Lode zu beraten. Die jahrelangen wöchentlichen Treffen und zahlreiche gegenseitige Hospitationen haben inzwischen dazu geführt, dass die Teams der Partner regelrecht zusammengewachsen seien.
Aber Temicare hilft nicht nur bei der Behandlung, sondern ist auch eine Hilfe für die Eltern der kleinen Patientinnen und Patienten. „In der dramatischen Situation, in der sie sich befinden, ist es für sie entscheidend, die Meinung eines Partners mit unbestrittener medizinischer Autorität zu hören“, sagt Professor Urasiński. Die gemeinsame Technik ermögliche hier einfache und schnelle Telekonsultationen mit den Eltern. Das schätzt auch Dr. Wieczorek: „Die Eltern fühlen sich sicherer, wenn sie wissen, dass sie um eine weitere Beratung bitten können“. So versammelt das Projekt bei jedem einzelnen Fall das Wissen der Spezialisten von vier Fachkliniken.
Und schließlich geht es um grenzüberschreitende Ausbildung der Mediziner, von Studierenden und des Pflegepersonals. Ermöglicht wird diese durch ein hybrides Online-System, an dem alle Partner beteiligt sind. Dazu Professor Urasiński: „Was mich nach mehr als drei Jahren des Projekts immer noch angenehm überrascht und erfreut, ist die spontane Reaktion der Studenten. Sie halten mich auf dem Flur an und fragen: ,Herr Professor, wann ist der nächste Telemedizin-Kurs?‘ Wir haben mit diesem Programm voll ins Schwarze getroffen!“
Apropos „ins Schwarze getroffen“: Die EU hat der Erweiterung des Projekts zugestimmt. Die Uniklinik Danzig und die Asklepios Klinikum Uckermark sind als neue Partner dabei. Ein Schwerpunkt der Arbeit liegt nun auf dem Einsatz von Virtueller Realität (VR) in Ausbildung und Lehre, aber auch im Kontakt und bei der Aufklärung von Patienten und ihren Angehörigen. Professor Urasiński erhofft sich davon einen wichtigen Schritt für die Behandlung der Kinder: „VR und IT werden das Niveau der Ausbildung anheben und uns gleichzeitig die Mittel an die Hand geben, den Eltern das Wesen der Krankheit ihres Kindes noch besser zu erklären."