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Vernetzt Krisen bewältigen

Mit einer Vielzahl von Projekten trägt Deutschland zur Stabilisierung und humanitären Grundversorgung in Krisenregionen bei.

Klaus Lüber, 02.05.2019
Mit einer Vielzahl von Projekten trägt Deutschland zur Stabilisierung und humanitären Grundversorgung in Krisenregionen bei.
© Sia Kambou/AFP/Getty Images

Jörg Kühnel, stellvertretender Landeschef des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) in Nigeria, erinnert sich lebhaft an den
9. Mai 2018. Damals fand in Maiduguri, einer ehemaligen Hochburg der Terrormiliz Boko Haram im Nordosten des Landes, das erste Gouverneursforum statt. Die Idee des von dem UNDP organisierten Treffens war es, alle politischen Akteure der Region an einen Tisch zu bringen und Gelegenheit zum Austausch zu schaffen. „Das war ein Riesending, die erste Konferenz in dieser Art in der Region überhaupt“, sagt der Deutsche.

Besonders war das Treffen aus mehreren Gründen. Es nahmen gleich vier Länder daran teil, neben Nigeria auch Kamerun, Niger und Tschad, alles Anrainerstaaten einer der politisch fragilsten Regionen weltweit: des Tschadseebeckens. Zudem waren hochrangige Vertreter der internationalen Staatengemeinschaft angereist und begleiteten das Forum – und dies trotz angespannter Sicherheitslage. „Wir wollten ein starkes politisches Signal senden und zeigen, dass wir die Region sehr ernsthaft unterstützen“, sagt Kühnel.

Das Gouverneursforum, welches seitdem jährlich stattfinden soll, ist Teil eines breit an­gelegten Stabilisierungsprojekts des UNDP im Tschadseebecken, das das Auswärtige Amt seit Oktober 2017 unterstützt. Das Projekt soll zur Konfliktlösung beitragen und Frieden fördern.  „Dass wir Humanitäre Hilfe, Friedensförderung und Entwicklung zusammen angehen müssen, wurde in der Theorie schon 2016 beim Humanitären Weltgipfel in Istanbul diskutiert. Das war jetzt die praktische Umsetzung“, so Kühnel.

Stabilität auf dem Weg zu Frieden

Neben dem Aufbau regionaler politischer Foren widmet sich das UNDP-Projekt Maßnahmen zur Sicherung der Grundversorgung in Gemeinden im Nordosten Nigerias sowie der Resozialisierung ehemaliger Boko-Haram-Kämpfer. „Das alles ist extrem anspruchsvoll, aber unserer Meinung nach ganz entscheidend, wenn man der Region mittel- und langfristig wieder auf die Beine helfen will“, sagt Kühnel. Es gehe darum, den Menschen wieder ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle zurückzugeben. Ansprechen wolle man vor allem junge Menschen, die sich aus Perspektivlosigkeit einer der vielen bewaffneten Gruppen anschlossen, sei es Boko Haram oder eine der Bürgerwehren, die sich im Zuge des Konfliktes bildeten. „Wir sind allein sechs Monate von Gemeinde zu Gemeinde gegangen und haben die Menschen gefragt: Was muss passieren, damit ihr ehemalige Täter wieder bei euch aufnehmen könnt?“

Die Problemlage im Tschadseebecken ist komplex, der Kampf gegen die Terrorgruppe Boko Haram hat seit 2009 mindestens 25 000 Zivilisten das Leben gekostet, über zwei Millionen Menschen wurden vertrieben, rund 3,6 Millionen sind von akutem Hunger bedroht. Eine sprunghaft steigende Bevölkerung führt zu Ressourcenknappheit.

Entscheidend für ihre Stabilisierungsarbeit im Land, betont Kühnel, sei die frühe Bereitschaft des Auswärtigen Amtes gewesen, einen konzeptionellen Anstoß zu geben und ein Programm zu entwickeln, das klar mit einer politischen Idee verknüpft ist. „Als wir während unserer Pilotphase Anfang 2017 merkten, wir schaffen das nicht allein, haben wir uns mit einigen Partnern unterhalten. Viele waren skeptisch, ob die Grundvoraussetzungen in der krisengebeutelten und humanitär so bedürftigen Region vorhanden sind, um mit politisch ausgerichteter Projektarbeit positiv auf die Entwicklung der Tschadsee-Staaten einzuwirken. Das Auswärtige Amt hat den Stier bei den Hörnern gepackt und sofort den politischen Prozess ange­stoßen.“

„Außenpolitik mit Mitteln“

Für Ekkehard Brose sind solche Rückmeldungen eine schöne Bestätigung dafür, dass sich das Auswärtige Amt in seinem internationalen Engagement auf dem richtigen Weg befindet. Brose ist Beauftragter für zivile Krisenprävention und Stabilisierung der 2015 neu gegründeten Abteilung für Krisenprä­vention, Stabilisierung, Konfliktnachsorge und  Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt. „Es gab den Anspruch, das außenpolitische Engagement in Krisenregionen ein Stück weit neu zu definieren“, so Brose. „Eine moderne Außenpolitik bedeutet heute mehr als nur klassische Diplomatie. Gerade in Krisen geht es darum, politische Ziele durch passgenaue Instrumente zu unterfüttern, zum Beispiel  Rechtsstaatsförderung, Mediation, Sicherheitssektorreform oder Vergangenheitsarbeit. Dafür wurde der Begriff ,Außenpolitik mit Mitteln‘ geprägt; dafür haben wir Personal, Mittel und Kompetenzen gebündelt“, so Brose. Politik in Krisen fordert einen vernetzten Ansatz: Je nach Bedarf müssen diplo­matische, entwicklungs- und sicherheitspolitische Maßnahmen flexibel und aufeinander abgestimmt zum Einsatz kommen.

Zentral war zunächst die Auseinandersetzung mit dem Stabilitätsbegriff selbst. Für das Auswärtige Amt waren die Erfahrungen vor allem in Afghanistan und Irak entscheidend; Brose selbst war in Irak von 2014 bis 2016 als Botschafter tätig. „Wir hatten schon dort eng mit dem UNDP zusammengearbeitet, was sicher mit dazu beigetragen hat, dass auch die Kooperation im Tschadseebecken von Anfang an so gut funktioniert hat.“ Stabilisierung, so heißt es in den im Oktober 2017 im Kabinett verabschiedeten Leitlinien der Bundesregierung, sei ein Ansatz im Umgang mit Gewaltkonflikten, der auf politische Prozesse der Konfliktlösung setzt.

Ein weiteres Beispiel für das neu definierte Engagement Deutschlands in Stabilisierungsfragen ist die Kooperation mit der britischen Nichtregierungs­organisation Conciliation Resources (CR). Ebenso wie UNDP arbeitet auch CR an friedensbildenden Maßnahmen im Nordosten Nigerias. Schon seit Jahren baut die Organisation sogenannte Youth Peace Platforms (YPP) auf, um diejenigen zu erreichen, die nach ihrer Analyse im Zentrum des Konfliktes stehen: junge Menschen. „Wer effektive Krisenprävention in der Region erreichen will, muss sich um die Jugend kümmern“, so Janet Adama Mohammed, West Africa Programme Director bei CR. „Sie sind diejenigen, die am meisten leiden.“

Krisenprävention in Nigeria

Die YPPs sind Begegnungsstätten für Jugendliche, in denen sie zunächst Schutz und im zweiten Schritt Unterstützung finden, ihrem Alltag wieder Struktur und Perspektive zu geben. „Eines der Kernprobleme im Tschadseebecken ist das Versagen staatlicher Strukturen“, so Mohammed. „Wir denken, für eine langfristige Konfliktprävention ist es absolut entscheidend, den Menschen ein Gefühl für Rechtsstaatlichkeit und politische Anteilnahme zu geben.“

Das Auswärtige Amt fördert diese und ähnliche Dialogformen im Rahmen seines Stabilisierungsansatzes, damit die Vorteile des friedlichen Miteinanders für die Bevölkerung schnell als sogenannte „Friedensdividende“ sichtbar werden.

Das Auswärtige Amt unterstützt solche Projekte allerdings nicht nur finanziell, sondern sorgt im Rahmen hochrangiger Konferenzen auch für multilaterale Abstimmung und Bündelung der Mittel. Im Herbst 2018 fand in Berlin die Tschadsee-Konferenz statt, die wichtige Akteure an einen Tisch brachte.

Klima und Sicherheit

Wetterextreme und andere Klimafolgen können Stabilität und Frieden bedrohen. Dass der menschengemachte Klimawandel nicht nur ein Umweltphänomen darstellt, sondern auch eine der zentralen Sicherheitsbedrohungen des 21. Jahrhunderts, ist in der Tschadsee-Region sichtbar. Häufiger und mit größerer Intensität auftretende Wetterextreme entziehen den Menschen in betroffenen Regionen zunehmend die Lebensgrundlage. Unsicherheit darüber, wann Regen und Dürrephasen zu erwarten sind, verstärkt den ohnehin hohen Anpassungsdruck der Bevölkerung.

In der Tschadsee-Region leben bis zu 90 Prozent der Menschen von Landwirtschaft, Fischerei oder Viehzucht. Der militärische Konflikt mit Boko Haram schränkt den Zugang zu fruchtbarem Land massiv ein. „Wenn dazu noch die Unsicherheit über Regenphasen und Erntezeiten kommt, ist das zu viel für die Menschen“, sagt Janani Vivekananda. Sie ist Projektmanagerin bei dem Berliner Thinktank adelphi, mit dem das Auswärtige Amt den Auswirkungen des Klimawandels im Tschadseebecken auf den Grund geht. Im Rahmen des noch bis 2020 laufenden Projektes „Lake Chad Risk Assessment“ werden Klima-Fragilitätsrisiken identifiziert und Handlungsmöglichkeiten vorgestellt. Darüber hinaus nutzt Deutschland seine Stimme im UN-Sicherheitsrat 2019/2020 unter anderem dafür, das Bewusstsein für die sicherheitspolitischen Folgen des Klimawandels zu schärfen und Handlungsmöglichkeiten zu stärken.

Minenräumen in zahlreichen Ländern

Die Neudefinition des Krisenmanagements hat dem deutschen außenpolitischen Handeln mehr Glaubwürdigkeit gegeben. Zugleich wurde die Reichweite des Engagements des Auswärtigen Amts vergrößert. „Ein gutes Beispiel hierfür ist unser Engagement im Minen- und Sprengfallenräumen in Irak“, sagt Ekkehard Brose. Dabei handele es sich um mehr als einen Akt der Humanität: „Es geht um Stabilisierung mit einem klar definierten politischen Ziel: der irakischen Regierung unter die Arme zu greifen.“

Rund ein Dutzend von Deutschland unterstützte Organisationen kümmern sich in mehreren Ländern darum, dass das Leben nach dem Ende von Kampfhandlungen weitergeht und Vertriebene in ihre Heimat zurückkehren können. Im Minen- und Kampfmittelräumen war Deutschland 2017 der zweitgrößte Geber.

In der Ukraine unterstützt das Auswärtige Amt die Organisation The HALO Trust. Die Uk­raine gehört inzwischen zu den mit Minen und Kampfmittelrückständen am stärksten kontaminierten Staaten der Welt.

In Irak unterstützt Deutschland in den vom IS befreiten Gebieten unter anderem den UN-Mienenräumdienst UNMAS und die Organisation Handicap International e.V. Hier wurden durch den IS extrem kontaminierte Städte hinterlassen. In Falludscha, Ramadi und Mossul sind Sprengfallen sogar in Kühlschränken, im Spielzeug, an Lichtschaltern oder auch auf Türschwellen gefunden worden. Handicap International konzentriert sich besonders auf die Beseitigung dieser selbstgebauten Sprengkörper. „In Irak konnten inzwischen große Teile der Binnenvertriebenen wieder in ihre Heimatorte zurückkehren. Das wäre ohne Minenräumprogramme nicht möglich gewesen“, betont Brose.

Humanitäre Hilfe in Nahost

Ebenso wichtig wie die Etablierung des Stabilitätsbegriffes im Krisenengagement ist Deutschland aber nach wie vor die Humanitäre Hilfe, die seit über 50 Jahren im Zuständigkeitsbereich des Auswärtigen Amts liegt. „Humanitäre Hilfe ist etwas grundsätzlich Anderes als Stabilisierung. Hier deckt man konkrete Bedarfe der Menschen, vollkommen unparteiisch, ohne damit politische Ziele zu verfolgen“, betont Brose.

In diesem Sinne aktuell besonders aktiv ist Deutschland in den Nachbarländern Syriens, die durch die Aufnahme einer großen Zahl von Flüchtlingen aus dem Bürgerkriegsland an ihre Belastungsgrenze stoßen. In Libanon hat die Hilfsorganisation Malteser International mit finanzieller Unterstützung des Auswärtigen Amts ein Projekt zur mobilen medizinischen Versorgung der Bevölkerung aufgebaut. Seit mehreren Jahren fahren zu Arztpraxen umgebaute Reisebusse Dörfer an, in denen Gesundheitsversorgung am nötigsten gebraucht wird. Janine Lietmeyer, Head of Regional Group Middle East bei Malteser International, ist eine der Projektverantwortlichen – sie betont: „Obwohl wir schon so lange in der Krisenregion Syrien tätig sind, ist das, was wir machen, immer noch lebensrettend, also humanitär im klassischen Sinne.“

Für Thomas Rottland, der bei CARE Deutschland für die Programme in Jordanien zuständig ist, geht es dabei nicht nur um die Grundversorgung der Menschen, sondern auch um den Schutz besonders gefährdeter Menschen wie Kinder oder alleinerziehende Frauen. Die Idee ist, der gro­ßen Mehrheit der syrischen Flüchtlinge, die entgegen der öffentlichen Wahrnehmung überwiegend nicht in Lagern, sondern relativ verstreut in urbanen Räumen leben, passgenaue Informationen zu weiterführenden Hilfsangeboten zur Verfügung zu stellen, psychosoziale Hilfe zu leisten und Bargeldhilfen für den Schulbesuch der Kinder zu geben.“

Ähnlich sieht das Michael Frischmuth von der Diakonie Katastrophenhilfe. Er koordiniert ein Projekt zur Nahrungsmittelsicherung für syrische Flüchtlinge in Libanon, das Deutschland unterstützt. „Wir sprechen bei Humanitärer Hilfe schon lange nicht mehr nur von der Verteilung von Hilfspaketen.“ Was vor allem daran liege, dass die Krisen immer komplexer werden. „Wir wollen  Menschen wieder in die Lage versetzen, für sich selbst zu sorgen.“

So wie CARE hat auch das Diakonie-Projekt in Jordanien die Menschen im Blick, die nicht in den großen Lagern, sondern oft in urbanen Räumen leben, in improvisierten Unterkünften, oder illegal auf Feldern. „Wir bieten mobile Küchen an und stellen auch Nahrungsmittel zur Verfügung, die dann von Flüchtlingen zu Mahlzeiten verarbeitet werden. So erhalten die Menschen die Gelegenheit, ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und decken zugleich ihren täglichen Ernährungsbedarf.“

Wollte man den Kern des neuen deutschen Krisenmanagements identifizieren, liegt dieser für Ekkehard Brose im Begriff der Verantwortung. „Es ist Teil unserer internationalen Verantwortung, mit einem modernen Krisenengagement zur Beilegung von Konflikten und der Vermeidung von weiteren Krisen beizutragen und gleichzeitig Humanitäre Hilfe zu leisten für jene, die sich selbst noch nicht helfen können und auch nicht von anderer Seite Hilfe erhalten. Das erfordert das Zusammenwirken verschiedenster Kräfte und Akteure in einem multilateralen Ansatz. Nur so können wir den Herausforderungen wirkungsvoll begegnen.“

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