Historischer Kniefall
Bundeskanzler Willy Brandt kniete am 7. Dezember 1970 in Warschau vor dem Ehrenmal der Toten des Warschauer Ghettos – eine Geste, die Geschichte schrieb.
Die Macht von Bildern ist unbestritten. Doch wie groß sie ist, zeigt sich mitunter erst, wenn man nichts sieht. So wie Egon Bahr am 7. Dezember 1970 in Warschau. Der engste Vertraute von Bundeskanzler Willy Brandt war wohl einfach zu bescheiden, um die historische Tat live verfolgen zu können: „Ich hatte mich ein wenig im Hintergrund gehalten. Plötzlich wurde es mucksmäuschenstill und irgendjemand raunte: Er kniet… Die Bilder habe ich erst gesehen, als sie um die Welt gingen.“ So erzählte es der Stratege der Brandtschen Ostpolitik später – und übertrieb intuitiv. In Wirklichkeit gingen die Bilder nur um einen Teil der Welt.
In der Volksrepublik Polen zum Beispiel zensierten die Staatsmedien die Szene. Mit erheblichen Folgen. In einer Zeit ohne Satellitenfernsehen und Internet, blieb das Nichtgezeigte dauerhaft ungesehen. Nicht zuletzt daraus erklärt sich die unterschiedliche Wirkungsgeschichte von Brandts „Kniefall von Warschau“. Die Demutsgeste war vor allem für die Deutschen von herausragender Bedeutung. „Sie war ein Akt der Selbstvergewisserung“, sagt Agnieszka Łada, Vizedirektorin des Deutschen Polen-Instituts. Erst dadurch aber entstand ein Fundament, auf dem sich die Deutschen im Angesicht ihrer historischen Schuld der Aussöhnung öffnen konnten. Genauer gesagt galt das vor allem für den Westen des geteilten Landes. Denn in der DDR war die vermeintliche Versöhnung mit den sozialistischen Bruderstaaten im Osten nach offizieller Lesart längst vollzogen.
Fünfzig Jahre nach dem Kniefall muss man sich die Zeit noch einmal vor Augen führen: In der Bundesrepublik kam die Aufarbeitung der NS-Geschichte nur zögerlich voran, und von einer Öffnung nach Osten wollten vor allem konservative Kreise nichts wissen. Das zeigte sich 1965, als sich die katholischen Bischöfe Polens in einem Brief an ihre deutschen Amtsbrüder wandten. „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“, war darin zu lesen. Das war ein ungeheuerlicher, ein unfassbar mutiger Satz angesichts von sechs Millionen Toten in Polen, die das Ergebnis jenes Vernichtungskrieges waren, den die Deutschen 1939 entfesselt hatten. Die Reaktionen in der Bundesrepublik blieben jedoch verhalten.
Die Lage änderte sich erst 1969 mit dem Amtsantritt des SPD-Politikers Brandt als Kanzler. Er sagte in seiner Regierungserklärung: „Unser Land braucht den Frieden mit allen Völkern des europäischen Ostens.“ Man müsse von einem Nebeneinander zu einem Miteinander kommen. Konservative warfen Brandt vor, die Einheit Deutschlands zu opfern und die ehemaligen „Ostgebiete“ gleich mit, die nun zu Polen, der Sowjetunion und der ČSSR gehörten. Auf den Straßen machten die Vertriebenen mobil. „Volksverräter Willy Brandt ‒ raus aus unserm Vaterland“, war auf Protestplakaten zu lesen. Fast zwölf Millionen Deutsche waren 1945 aus ihrer Heimat im Osten geflohen.
Im Dezember 1970 reiste Brandt als erster Bundeskanzler nach Warschau, 25 Jahre nach Kriegsende. Im Gepäck hatte er einen Vertrag: Gewaltverzicht, Aufnahme diplomatischer Beziehungen und die Anerkennung des Status quo waren die zentralen Prinzipien des Warschauer Vertrags, der faktisch auch die Oder-Neiße-Grenze festschrieb. Für die kommunistische Führung Polens war das Abkommen deshalb von enormer Bedeutung. Doch Parteichef Władysław Gomułka erhoffte sich mehr. Die im Vertrag als Ziel formulierte „umfassende Entwicklung der Beziehungen“ sollte helfen, den Unmut im eigenen Land zu beschwichtigen. Denn die realsozialistische Wirtschaft kam nur schwer in Schwung, und viele freiheitsliebende Polen wollten sich nicht mit sowjetkommunistischer Fremdherrschaft abfinden.
Genau deshalb wurde Brandts Kniefall für Gomułka zum größten anzunehmenden Unfall. „Er wollte den Vertrag in den Mittelpunkt rücken, nichts sonst“, erklärt Łada. Aber nun war da diese Szene vor dem Ghetto-Mahnmal. Die elf Meter hohe Stele mit Bronzerelief erinnert an die Toten und die Helden des Warschauer Judenghettos. Das war ein abgesperrter Bezirk, den die Nazis 1940 unweit des Stadtzentrums eingerichtet hatten. Im April 1943 stürzten sich die eingemauerten, hungernden Bewohner lieber in einen aussichtslosen Aufstand, als sich weiter gewaltsam in den sicheren Tod abtransportieren zu lassen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die SS bereits 300.000 Menschen aus dem Ghetto deportiert und ermordet, die meisten im Vernichtungslager Treblinka.
Brandt schritt am Morgen des 7. Dezember auf das Mahnmal zu, verharrte auf den nassen Stufen vor dem bereits niedergelegten Kranz – und sank dann plötzlich auf die Knie, mit geneigtem Kopf. Etwa eine halbe Minute verharrte er in dieser Haltung. Nur warum und für wen kniete Brandt? Das waren die Fragen, die man sich in Polen sofort stellte, wie es Łada sagt: „War die Geste an die Juden gerichtet, eine Bitte um Vergebung für den Holocaust, ging es um ein Symbol für die gesamte Ostpolitik oder um ein umfassendes Bekenntnis zur deutschen Schuld und eine Bitte um Versöhnung, die sich an alle NS-Opfer richtete?“
Egon Bahr sagte später: „Er meinte alle Opfer des Nationalsozialismus, und das ist in Polen auch so verstanden worden.“ Doch damit ging er wohl zu weit. Im Warschauer Politbüro war die Irritation groß, weil Brandt zuvor auch am Grabmal des Unbekannten Soldaten einen Kranz niedergelegt hatte, um die polnischen Freiheitskämpfer zu ehren. Auf die Knie aber sank er vor dem Ghetto-Mahnmal. Hinzu kam, dass die kommunistische Führung unter Gomułka 1968 eine antisemitische Kampagne lanciert hatte, weil sie in jüdischen Intellektuellen „Volksfeinde“ sah. Zehntausende polnische Juden wurden in die Emigration gezwungen. So kam es, dass der Kniefall in Polen „wegzensiert“ wurde und seine Wirkung für die Aussöhnung mit Deutschland erst auf Umwegen entfalten konnte.
Kohl und Mazowiecki vollenden die Ostpolitik der 70er Jahre
Das gelang dank der Veränderungen, die sich in der Bundesrepublik anbahnten. „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last Millionen Ermordeter tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt“, schrieb Brandt in seinen Memoiren. Es war eine Deutung im Nachhinein, die wohl über das faktische Geschehen des 7. Dezember 1970 hinausging. Aber genau in diesem Sinn begann die historische Geste zu wirken. Vom Kniefall führt ein nahezu direkter Weg zu der Umarmung von Helmut Kohl, dem ersten gesamtdeutschen Kanzler, mit dem ersten Premier des postkommunistischen Polens, Tadeusz Mazowiecki, in Krzyżowa/Kreisau im November 1989. Im Rückblick war das die Vollendung der Ostpolitik, die Brandt 1970 begonnen hatte und wofür er 1972 den Friedensnobelpreis bekam.