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Mit KI antike Texte entschlüsseln

Sie wollen einen der größten literarischen Schätze der Antike bergen: Wie ein Forschungstrio mit KI karbonisierte Schriftrollen entziffert.

Astrid Herbold, 03.04.2024
KI hilft dabei, Schriftzeichen auf Papyrusrollen sichtbar zu machen.
KI hilft dabei, Schriftzeichen auf Papyrusrollen sichtbar zu machen. © Digital Restoration Initiative at the University of Kentucky

Gar nicht so leicht, Youssef Nader in diesen Tagen in Berlin ans Telefon zu bekommen. Der 27-jährige Doktorand aus Ägypten ist vor einigen Wochen, quasi über Nacht, zu einem berühmten und vielgefragten Forscher geworden. Nader kam vor vier Jahren aus Kairo in die deutsche Hauptstadt Berlin und promovierte an der Freien Universität Berlin am Dahlem Center for Machine Learning and Robotics. Seither haben Medien auf der ganzen Welt über ihn und sein Team berichtet; sie sparten dabei nicht an Superlativen. „Die klügsten jungen Köpfe der Welt haben gerade ein zweitausend Jahre altes Rätsel gelöst“, titelte etwa das Wall Street Journal. 

Das sei alles immer noch „überwältigend“, sagt Nader, er habe gar nicht damit gerechnet, dass ein wissenschaftlicher Wettbewerb solch einen Rummel auslösen könnte. Dann ergänzt er bescheiden: „Es macht mich stolz, Teil von etwas so Großem zu sein. Ich bin glücklich, dass ich etwas beitragen konnte.“ Die Erkenntnisse des jungen Forschers haben viele Althistoriker und auch die geschichtsinteressierte Öffentlichkeit in helle Aufregung versetzt. Denn dank einer Künstlichen-Intelligenz-Anwendung, die Nader entwickelte, könnte in den kommenden Jahren einer der größten literarischen Schätze der Antike gehoben werden – buchstäblich. 

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Als im Jahr 79 der Vesuv ausbrach, begruben Asche und Lava nicht nur die berühmte Stadt Pompeji, sondern auch den Nachbarort Herculaneum. Verschüttet wurde unter anderem eine römische Villa, in der man bei Ausgrabungen im 18. Jahrhundert hunderte Papyrusrollen entdeckt. Schon damals ein Sensationsfund: die weltweit einzige erhaltene antike Bibliothek. Nur waren die wertvollen Schriftrollen allesamt unlesbar. Die Hitze des Ausbruchs hatte sie zu schwarzen Klumpen karbonisiert, die kohlenstoffhaltige Tinte war nicht mehr zu erkennen. Jahrhundertelang scheiterten alle Versuche, die Rollen zu entblättern oder irgendetwas auf ihnen zu entziffern. 

Anfangs sah ich immer nur schwarz auf schwarz.
Youssef Nader, Forscher

Doch dann unternahm die University of Kentucky, finanziell unterstützt von Investoren aus dem Silicon Valley, im Frühling 2023 einen neuen Anlauf. Die Forscher fertigten mithilfe eines Teilchenbeschleunigers hochauflösende Röntgenaufnahmen mehrerer Schriftrollen an und stellten sie im Rahmen eines Wissenschaftswettbewerbs der Öffentlichkeit zur Verfügung. Ihre Hoffnung war, dass es mithilfe von Künstlicher Intelligenz gelingen könnte, minimale Oberflächen- oder Texturveränderungen auf dem Papyrus sichtbar zu machen – und so die vor tausenden Jahren niedergeschriebenen Buchstaben zu rekonstruieren. 700.000 US-Dollar Preisgeld wurden im Rahmen der „Vesuvius Challenge“ ausgelobt. Der Gewinner oder die Gewinnerin sollte mindestens vier Passagen mit jeweils 140 Schriftzeichen sichtbar machen. 

Die KI nicht zu klug werden lassen

Youssef Nader war, als er die Wettbewerbsankündigung entdeckte, sofort elektrisiert – und bereit, dafür seine Doktorarbeit für einige Monate ruhen zu lassen. An der Freien Universität Berlin, wo Nader zu einer Biorobotik-Forschungsgruppe gehört, wurde er von seinem Betreuer Professor Tim Landgraf ausdrücklich ermutigt. „’Mach das unbedingt’, sagte er zu mir“, erinnert sich Nader. Doch zunächst ließ der Erfolg auf sich warten. Wochenlang gab es kaum Fortschritt. Das Ausgangsmaterial, „ein Riesenhaufen Daten“, wie Nader sagt, entzog sich der maschinellen Mustererkennung. „Anfangs sah ich immer nur schwarz auf schwarz.“ Doch Nader ließ nicht locker: Er studierte die Herangehensweise anderer Forscher in ähnlichen Wettbewerben, kombinierte unterschiedliche Methoden, versuchte es immer wieder aufs Neue. Es brauche als Wissenschaftler Resilienz und Ausdauer. Mit dem Scheitern umzugehen sei ein wichtiger Teil des Prozesses: „Nur so kann man herausfinden, was man besser machen kann.“ Nader kam zu dem Schluss, dass seine KI nicht zu „klug“ sein dürfe, nicht „over engineered“, wie er es ausdrückt. „Ich habe immer versucht, weiter zu vereinfachen.“ So wusste die von ihm entwickelte Anwendung nicht einmal, wie griechische Buchstaben aussehen. Es hätte sonst die Gefahr bestanden, dass die KI das Datenmaterial überinterpretiert. 

Youssef Nader von der FU Berlin entzifferte Teile eines verkohlten Papyrus.
Youssef Nader von der FU Berlin entzifferte Teile eines verkohlten Papyrus. © privat

Im Herbst 2023 gelang dann der Durchbruch: Sowohl Youssef Nader als auch ein anderer Wettbewerbsteilnehmer fanden Spuren von Tinte und entzifferten schließlich unabhängig voneinander das erste Wort: „purpurfarben“. Die kommenden Monate waren für Nader extrem: Er arbeitete rund um die Uhr, um seine KI zu trainieren und weitere Worte sichtbar zu mache. „Es war unfassbar viel Arbeit.“ Die er aber gerne in Kauf nahm – denn nun habe er gewusst, dass er auf der richtigen Spur war. „Ab dem Moment ging es nur noch darum, es weiter nach vorne zu pushen“, sagt Nader. „Ich war mir ja jetzt sicher, dass es funktionierte.“

Unbekannte Texte antiker Philosophen zum Vorschein bringen

Am Ende gewann Nader zusammen mit zwei jungen Forschern aus der Schweiz und den USA, mit denen er sich kurz vor Wettbewerbsende zu einem Team zusammengeschlossen hatte. Als Trio gelang es ihnen, 2.000 Zeichen auf einer der Papyrusrollen zu entschlüsseln. Dabei kam ein bisher gänzlich unbekannter Text zum Vorschein, der von Freude und Genuss handelt und möglicherweise von dem antiken Philosophen Philodemos stammt. 

Weil die erste Wettbewerbsrunde ein so durchschlagender Erfolg war, geht die „Vesuvius Challenge“ 2024 in die nächste Runde. Youssef Nader wird diesmal wohl nicht dabei sein, ihm fehle derzeit die Energie, sagt er. „Es waren zuletzt sehr chaotische Monate.“ Stattdessen will er sich nun wieder auf seine Doktorarbeit konzentrieren – und möglicherweise in Berlin an neue Forschungsfragen anknüpfen. Die internationale Aufmerksamkeit hat ihm bereits Türen geöffnet: Seit einiger Zeit ist er mit Wissenschaftlern in Kontakt, die in Deutschland an ägyptischen Papyrusrollen forschen. „Das finde ich sehr spannend – und das motiviert mich auch, in diese Richtung weiterzumachen.“