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Mit Experimenten 
den Ton angeben

Kein Klang ist ihnen zu bizarr, kein Rhythmus zu vertrackt: das Ensemble Modern und andere deutsche Vertreter der Neuen Musik

Wolfgang Sandner, 23.09.2015

Lange blieb manchen Komponisten des 20. Jahrhunderts nichts anderes übrig, als das Geheimnis der Geduld zu entziffern. Ihre neu­artigen Werke blieben in der Schublade, weil kein Interpret die Zeichen für Geräusche, Aktionen und Klänge deuten konnte. Pierre Boulez etwa komponierte sein „Livre pour quatuor“ 1948 und 1949. Teilweise aufgeführt wurde es sechs Jahre später, annähernd vollständig erst 2000, vom Quatuor Parisii. Der Geiger Irvine Arditti zählte es zu den schwierigsten Kompositionen seines Repertoires. Diese Einschätzung trifft auch auf das Werk „Le marteau sans maître“ von Boulez zu, eine Schlüsselkomposition der gesamten Avantgarde in der Nachfolge Arnold Schönbergs. Hans Rosbaud musste mit dem Südwestfunkorchester 1955 nicht weniger als 44 Proben ansetzen, um es uraufführen zu können. Schlagzeuger, die fähig gewesen wären, so etwas Vertracktes zu erfassen, gab es so wenig wie Gitarristen, die den Anweisungen eines Dirigenten folgen konnten.

Eigentlich müssen sich die Komponisten heute glücklich schätzen. Sie können ihre Werke mit ruhigem ästhetischem Gewissen Musikern anvertrauen, die das Sperrige zu ihrem künstlerischen Tagwerk gemacht haben. In Deutschland, sonst in musikalischen Dingen häufig vorweggehend, hat es länger als in Frankreich, Italien oder England gedauert, bis sich mit dem Ensemble Modern 1980 eine Gruppe von Neue-Musik-Spezialisten zusammenfand.

Das Ensemble Modern, vier Jahre nach dem von Boulez ins Leben gerufenen Ensemble intercontemporain entstanden, spielte sich schnell in die erste Reihe internationaler Experten der neuen Richtung. Nicht nur die vielen Auszeichnungen belegen die Wertschätzung, die man den Künstlern mit heutigem Sitz in Frankfurt am Main entgegenbringt, es sind vor allem die Aufträge renommierter Komponisten, die zeigen, dass den Musikern, die sich in guter linker Tradition selbst verwalten, kein Rhythmus zu vertrackt, kein Experiment zu ausgefallen und kein Klang zu bizarr ist, als dass er nicht durch ein Blasrohr, eine Saite, ein Schlagwerk, eine Taste, ein Mundwerk oder eine Geste hervorgebracht werden könnte.

Wer sich fragt, woran es liegt, dass sich das Ensemble in den 35 Jahren seiner Existenz so großes Renommee erworben hat, stößt vor allem auf zwei Gründe. Die Mitglieder haben den Mythos vom „rolling stone“ verinnerlicht: in Bewegung bleiben, kein Moos ansetzen, keine Routine entstehen lassen. Und sie akzeptieren offenbar künstlerische Vorurteile nicht. Das hat ihnen die Hochachtung so unterschiedlicher Künstler wie György Ligeti und Nina Hagen, Frank Zappa und Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel und Heiner Goebbels, Bill Viola und Steve Reich eingetragen. Dass die 22 Mitglieder aus einem knappen Dutzend Ländern kommen, scheint ebenso Programm zu sein wie das breit gefächerte Repertoire von avancierter Kammermusik bis zu Musiktheaterstücken, von Videoprojekten bis zu Orchesterwerken und zum Jazz.

Allein die Existenz und Expertise des Ensembles haben den Geist von Künstlern beflügelt und zu einer ungeahnten Wechselwirkung zwischen Komposition und Interpretation geführt. Ein unorthodoxer Künstler wie Heiner Goebbels, der aus der alternativen Szene der Achtundsechziger stammt und mit dem „Sogenannten linksradikalen Blasorchester“ einen gänzlich anderen Werdegang hat als seine Kollegen der klassischen Avantgarde, hat mithilfe des Ensemble Modern einen Kompositionsstil perfektionieren können, bei dem die Inszenierung ein integraler Bestandteil der musikalischen Faktur wurde. Bei Stücken wie „black on white“ oder dem szenischen Konzert „Eislermaterial“ ist das Ensemble nicht lediglich das ausführende Orchester, es ist gewissermaßen Teil der Partitur und der Komposition.

Auch Matthias Pintscher, 1971 in Marl geboren, der heute in New York und Paris lebt und schnell zu einem der erfolgreichsten und meistdiskutierten Komponisten seiner Generation wurde, hat für sein Werk von den Fähigkeiten solcher Gruppen wie des Ensemble Modern profitiert, auch vom Klangforum Wien oder dem Ensemble intercontemporain, das er als Dirigent leitet. Dabei ist Pintscher zu seinem avanciert anspruchsvollen Stil durchaus auf traditionellem Weg über das Kompositionsstudium etwa bei Giselher Klebe, Hans Werner Henze, Pierre Boulez oder Péter Eötvös gekommen. Er schafft Werke, die – nicht zuletzt inspiriert von der bildenden Kunst eines Anselm Kiefer oder Cy Twombly und der Lyrik eines Arthur Rimbaud – das musikalische Material in Farbelemente zerlegen und unkonventionell neu ordnen.

Ähnliches gilt für den zwei Jahre jüngeren Klarinettisten und Komponisten Jörg Widmann aus München, der allerdings bei vielen von ihm initiierten Werken für sein Instrument gleichsam die Rolle des neuen, alle aktuellen Techniken und Artikulationsarten beherrschenden Interpreten und des alle neuen Formen im Werk klug umsetzenden Komponisten vereint. Was besticht, ist die Sinnlichkeit seiner Klangsprache, bei der etwa rigorose Schabegeräusche von Violinen hart am Steg oder Saitenglissandi eines Flügels nie verbergen, wie sehr diese Musik aus dem Geist der Kantilene erschaffen wurde.

Nur Michael Wollny will auf Anhieb nicht recht in diese Künstlerphalanx passen. Und doch kann man auch ihn mit gewissem Recht zu den Vertretern neuer Interpretations- und Kompositionsformen zählen. Denn der Künstler des Jahrgangs 1978 aus Schweinfurt, den man einen Jazzpianisten zu bezeichnen zögert, lässt in seiner musikalischen Wunderkammer die Schlagbäume zwischen den Genres stets hochgezogen. Weil er ahnt, dass einen zwölftaktigen Blues von Robert Johnson, eine späte Schubert-Sonate und John Cages präpariertes Klavier möglicherweise nicht die musikalische Sub­stanz oder die angemessene Ästhetik trennt, sondern vielmehr das Vorurteil der Rezeption. ▪