Pionierin der Gedenkarbeit
Die Freiheit aus der eigenen Geschichte zu lernen: Susanne Siegert zeigt, wie Social Media Geschichte lebendig machen kann.
Sagen, was du denkst. Erforschen, was du möchtest. Kunst erschaffen, wie sie dir gefällt: Diese Freiheiten haben alle in Deutschland, sie sind die Basis der Demokratie – und geschützt vom Grundgesetz. Lerne junge Menschen aus Deutschland kennen, die zeigen, wie vielfältig sie diese Freiheit erleben.
Erinnerung an den Holocaust in 90 Sekunden – geht das? Ja, das geht – Susanne Siegert zeigt es auf ihren Social-Media-Kanälen „Keine. Erinnerungskultur“ auf Instagram und TikTok. Moment mal, keine Erinnerungskultur? „In einem Podcast habe ich den Gedanken gehört, dass man sich im Wortsinn ja eigentlich nur an etwas erinnern kann, das man persönlich erlebt hat“, erklärt Susanne. Sie selbst bevorzugt den Begriff der „Gedenkarbeit“, denn das Wissen über die Schrecken des Holocaust zu bewahren bedeutet für sie Arbeit, vor allem von Menschen, die diese Zeit nicht selbst miterlebt haben.
Das Gedenken an die NS-Zeit hat einen hohen Stellenwert
Die Erinnerung an den Holocaust und die Verbrechen des Nationalsozialismus ist in Deutschland tief verwurzelt. Gedenkstätten, Museen und Veranstaltungen halten das Wissen über die Schrecken der Vergangenheit wach. Ein besonderer Aspekt der deutschen Erinnerungskultur ist die Freiheit, sich auf vielfältige Weise mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Geschützt durch die Wissenschafts-, Kunst- und Meinungsfreiheit, haben Menschen in Deutschland die Möglichkeit, neue Wege des Erinnerns zu finden. Ob in der Schule, an der Universität oder im Kunst- und Kulturbereich – die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist nicht nur erlaubt, sondern erwünscht.
Die sozialen Medien spielen dabei eine immer wichtigere Rolle. „Social Media demokratisiert den Diskurs, weil jeder mitmachen kann und man Informationen direkt von den Betroffenen bezieht“, sagt Susanne. Dadurch entsteht eine plurale Erinnerungskultur, die alle Perspektiven sichtbar macht – auch von Opfergruppen, die im öffentlichen Raum oft noch keine große Aufmerksamkeit erhalten.
Wissen über den Holocaust öffentlich zugänglich machen
Mit ihrem Engagement auf Social Media hilft Susanne dabei, Wissen über die NS-Zeit auch jungen Zielgruppen zu vermitteln. Im Dezember 2020 veröffentlichte sie ihren ersten Post auf Instagram. „Ich hatte schon immer großes Interesse an der NS-Vergangenheit und wollte das gerne teilen, weil ich überrascht war, wie viel man in offen zugänglichen Archiven zu dem Thema findet – Originaldokumente, Zeugenaussagen, Gerichtsprotokolle und Bilder“, erzählt Susanne.
Informationen über den Holocaust sind in Deutschland frei zugänglich. Um das historische Bewusstsein zu fördern und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu unterstützen, regelt das Bundesarchivgesetz die Erhaltung und den Zugang zu staatlichen Archiven in Deutschland. Es legt fest, dass Dokumente, die von staatlichen Institutionen und Behörden erstellt wurden, nach einer bestimmten Frist der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden müssen, in der Regel nach 30 Jahren. Diese Zugangsrechte tragen dazu bei, dass das Wissen über den Holocaust und die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht nur in akademischen Kreisen, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit verbreitet wird.
Menschen auf Social Media eine Plattform geben
Nachdem Susanne bemerkt, dass ihre Beiträge auch bei jungen Zielgruppen auf reges Interesse stoßen, veröffentlicht sie 2022 ihr erstes Video auf TikTok. „Ich habe sehr schnell festgestellt, dass TikTok genau die richtige Plattform ist. Dort ist eine junge Zielgruppe und man wird schnell von Menschen entdeckt, die gerne mehr über das Thema erfahren möchten.“ Ihre Kanäle mit rund 300.000 Followern haben sich mittlerweile zu einem Archiv über unterschiedliche Aspekte des Holocaust entwickelt. User finden dort auch weniger bekannte Informationen über die deutsche NS-Vergangenheit. In ihren Videos erklärt Susanne beispielsweise, wieso Adolf Hitler sich nicht gerne mit Brille zeigte, welche Wörter, die noch heute im Sprachgebrauch vorhanden sind, einen Ursprung in der Nazi-Zeit haben und welche Rolle schwarze Soldaten der US-Armee bei der Befreiung Deutschlands spielten. Ihr Engagement reicht inzwischen über ihre Social Media Plattformen hinaus. „Ich finde es faszinierend, wie Social Media neuen Leuten eine Plattform bietet. Mich hätte vor vier Jahren niemand zu diesem Thema befragt und jetzt bringe ich bald ein Buch über Erinnerungskultur heraus“, erzählt Susanne.
In ihren Videos versucht sie Bezugspunkte zur aktuellen Lebenswelt von Menschen zu schaffen, um zu zeigen, welche Auswirkungen die Vergangenheit auf die Gegenwart hat. Insbesondere junge Menschen und Migranten bringen neue Ansätze und Sichtweisen in die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte ein, das merkt auch Susanne im Austausch mit ihren Followern. „Junge Menschen haben Interesse an neuen Themen, zum Beispiel einer queeren oder einer feministischen Perspektive.“ Mit ihren Videos möchte sie keine Dokumentationen oder den Schulunterricht ersetzen. „Sie sind aber eine gute Ergänzung für Menschen, die sich für das Thema interessieren“, so die Influencerin.