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„Man kann sich ein bisschen neu erfinden“

Tee trinken mit Holocaust-Überlebenden: Jugendliche berichten, wie ihr Freiwilligendienst sie selbst und ihre Sicht auf die Welt verändert hat.

Christina Rath, 14.08.2019
Der Freiwilligendienst ist für die Jugendlichen ein Perspektivenwechsel.
Der Freiwilligendienst ist für die Jugendlichen ein Perspektivenwechsel. © privat

Sie gehen für Zeitzeugen einkaufen, machen Stadtführungen, halten Seminare und unterstützen, wo sie können: Joanna Matera, Tillmann Lüken, Linus Vogt und Friederike Csutor. Die letzten drei sind 19 Jahre alt, haben das Abitur in der Tasche und starten in ein Leben nach der Schule.

„Mir war klar, dass ich vor dem Studium einfach mal rauskommen will“, sagt Tillmann Lüken. Das machen viele in seiner Generation. Dem Abiturienten aus Norden in Ostfriesland ist es aber wichtig, etwas zu tun, „was Sinn hat, von dem andere profitieren“

Schon vor dem Abitur hat er sich deshalb bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) beworben. Als es soweit war, kam er zur Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung in Warschau. Dort arbeitet er im Büro mit polnischen Kollegen. Die Verständigung sei nicht einfach, denn bis auf den Chef sprechen sie dort fast nur polnisch, „aber sie sind alle nett“, sagt Lüken.

Regelmäßig macht er Hausbesuche bei Holocaust-Überlebenden, trinkt mit ihnen Tee, kauft für sie ein, macht ein bisschen Haushalt, redet. Zwei Frauen hat er über Monate besucht, eine von ihnen ist vor einiger Zeit gestorben. „Das war ein komisches Gefühl“, sagt Lüken. „Sie hat mir immer sehr viel von ihrem Leben erzählt. Und plötzlich bin ich auf ihrer Beerdigung.“

Lüken hat erkannt: „Im Büro arbeiten ist eher nichts für mich. Ich möchte lieber raus und Kontakt mit Menschen haben.“ Seine eigenen beruflichen Pläne hat er im Laufe des Jahres gefasst und umgesetzt: Der Klavier- und Klarinettenspieler will Musik studieren. Zur Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfungen (die er zwischendurch in Deutschland abgelegt hat) hat er in Warschau in einem Orchester gespielt und Klavierunterricht genommen.

In der Freizeit war er mit anderen Freiwilligen in Polen unterwegs, hat Auschwitz, Krakau, Breslau, Danzig und andere Städte besucht. Wie selbstverständlich nennt er beim Aufzählen die polnischen Namen – er ist also schon ganz gut drin im Polnischen.

Er freut sich auf das, was kommt, aber der Abschied in wenigen Wochen „ist komisch. Das endet so abrupt.“ Er habe es in Warschau sehr genossen, sagt Lüken.

Eher zufällig kam Linus Vogt zu seinem Freiwilligenjahr. Der politik- und geschichtsinteressierte Abiturient wusste erst nicht, was er machen sollte. Nachdem er einen Einblick in die Projektarbeit bekommen hatte, bewarb er sich auf Plätze in den Niederlanden, Tschechien und Polen.

Er entscheidet sich schließlich für die Internationale Jugendbegegnungsstätte in Oswiecim/Auschwitz (IJBS), Unterkunft für Besuchergruppen und Bildungseinrichtung. Auch Zeitzeugen übernachten manchmal hier, erzählen Besuchern aus ihrem Leben.

Seine Aufgaben sind es unter anderem, Studiengruppen aus Deutschland zu unterstützen und Stadtführungen zu machen. Der 19-Jährige aus Dresden arbeitet in einem internationalen Team, da gibt es sprachlich wenig Probleme. Auch ihm gefällt die Arbeit mit Menschen: „Jede Woche kamen neue Schüler, Studenten, Professoren.“

Es habe ihm viel gebracht, sagt Vogt. Er traut sich nun, vor Gruppen zu sprechen, hat gelernt, wie man bei Stadtführungen das Interesse der Zuhörer weckt – „und weiterzureden, auch wenn jemand desinteressiert schaut“. „Kommunikation ist wichtig“, hat er erfahren, im Team zu arbeiten, mit anderen zu reden. Auch Linus Vogt ist in dem Jahr viel im Land herumgekommen. „Wir arbeiten ja auch an Wochenenden. Die Ausgleichstage kann man geschickt zusammenlegen und wegfahren.“

„Es war ein sehr schönes Jahr“, sagt er rückblickend. „Es gab sehr viele Highlights.“ Einen Freiwilligendienst würde er jedem empfehlen – und ihn auch jederzeit wieder machen.

Friederike Csutor wollte nach dem Abitur nicht sofort studieren. Schon immer hatte die Berlinerin großes Interesse an Geschichte und bei einer Gedenkstättenfahrt kam ihr die Idee, sich bei der Aktion Sühnezeichen für Projekte in den Niederlanden, Polen und Tschechien zu bewerben.

Sie arbeitet nun im Jüdischen Zentrum in Auschwitz, einem Museum. Dort leitet sie Workshops, macht Führungen und ist manchmal auch einfach „Mädchen für alles“. Im Team sind vor allem polnische Mitarbeiter, dazu drei Freiwillige aus der Ukraine, Österreich und Deutschland. Dort, wo sie mit Englisch und Deutsch nicht weiterkommt, läuft die Kommunikation eben „mit Händen und Füßen“.

Hier habe sie „Menschen aus den unterschiedlichsten Ecken“ kennengelernt und viele neue Freunde gefunden. Im Café des jüdischen Zentrums arbeiteten junge Leute, „die haben uns viel gezeigt, zum Beispiel wo es die besten Bars und gutes Essen in der Stadt gibt“.

Allein dass sie, die Großstädterin, nun in einer Kleinstadt gelandet ist, bedeutet einen Perspektivwechsel: „Ich habe ganz andere Einblicke bekommen.“ Und es gibt auch eine ganz profane Erkenntnis: „Toilettenpapier wächst nicht auf Bäumen, das muss man kaufen.“ Für das Jahr in Polen ist sie zum ersten Mal bei den Eltern ausgezogen und muss sich um alles selbst kümmern.

Was auch Vorteile hat: Zu Hause sei man immer in seiner Rolle als Kind, „hier kann man sich ein bisschen neu erfinden“. „Der Abschied ist für mich surreal“, gibt Friederike Csutor zu. „Oswiecim ist mein Zuhause geworden.“

Joanna Matera ist Polin und studiert seit drei Jahren Psychologie in Warschau. Ende vergangenen Jahres kam der 23-Jährigen die Idee, ihr Studium zu unterbrechen und für ein Jahr ins Ausland zu gehen. Sie sah sich um und hatte sofort Glück: Bei der Roma Support Group in London war jemand abgesprungen und sie konnte dort über die ASF als Freiwillige für ein Jahr arbeiten. „Das war die beste Entscheidung meines Lebens.“

Die Roma Support Group hat es sich zum Ziel gesetzt, die Roma-Gemeinschaft im Alltag zu unterstützen und bei der Integration zu helfen. Gleichzeitig möchte sie die Gesellschaft auf die Situation der Roma aufmerksam machen, ihnen deren Erbe und Kultur näher bringen und Vorurteile abbauen. „Ich habe eine Organisation gefunden, die perfekt zu meinen Werten passt“, sagt Joanna Matera. Gerade weil sie auch bei Freunden auf Vorurteile gegenüber den Roma gestoßen ist, war es ihr wichtig, ihnen sagen zu können, wo sie falsch liegen.

Vorurteile abbauen, Perspektiven vergleichen

In London hat sie sich das Projekt „Advice and Advocacy“ ausgesucht. Hier half sie Roma zum Beispiel bei der Suche nach Wohnungen, bei Sozialhilfe und Schuldenmanagement, dolmetschte, führte für sie Telefonate, schrieb Briefe und Mails, was auch immer benötigt wurde. Außerdem war sie aktiv in einem Jugendclub und half bei der Organisation öffentlicher Veranstaltungen der Roma-Gemeinschaft.
Dabei arbeitete sie mit Menschen aus Polen, der Ukraine und Deutschland zusammen. „Wir haben alle unterschiedliche Perspektiven und Meinungen, die haben wir in vielen Gesprächen über Politik und Geschichte miteinander verglichen“, sagt Matera.

Sie habe Freunde gefunden, mit denen sie auf jeden Fall in Kontakt bleiben will. „Beim Abschied haben wir geweint“, erzählt sie. Gerade eben ist sie nach Polen zurückgekehrt und will nun ihr Studium zu Ende führen. Ihre Arbeit will Joanna Matera über soziale Diskriminierung schreiben. Aber jetzt freut sie sich zunächst auf eine weitere Reise: Ihre Uni organisiert eine Summer School, bei der sich Studenten mit psychologischen Mechanismen von Konflikten beschäftigt. Daher geht es im September erst einmal für elf Tage nach Israel.

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