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Generationen und Grenzen

„Zusammenwachsen“: Musa Deli schreibt über Erfahrungen türkeistämmiger Familien in Deutschland.

Interview: Canan Topçu, 10.01.2023
Musa Deli: „Aufschieben des guten Lebens“
Musa Deli: „Aufschieben des guten Lebens“ © Steffi Atze

In seinem Buch „Zusammenwachsen: Die Herausforderungen der Integration“ blickt der Kölner Sozialpsychologe Musa Deli auf drei Generationen von Deutschtürken. Ein Gespräch über unterschiedliche Lebenswege und aktuelle Herausforderungen.

Herr Deli, ihr Buch handelt von der ersten, zweiten und dritten Generation türkeistämmiger Migranten. Exemplarisch schreiben Sie immer wieder auch über Ihre Eltern, sich selbst und Ihre beiden Brüder, etwa, dass Sie als Kinder zu kurz kamen. Sie beschreiben das Leben in der kleinen Kölner Zweizimmerwohnung ohne Bad und Toilette. „Die Wohnung war so klein, dass keiner von uns, weder meine Eltern noch wir drei Kinder, über das kleinste bisschen Privatsphäre verfügten. Für einen Schreibtisch, an dem Hausaufgaben erledigt werden konnten, fehlte der Platz.“ Und das vor allem, weil Ihre Eltern schnell viel Geld sparen wollten. Macht Sie das rückblickend nicht wütend?

Nein, mich nicht, aber meine Brüder sehr. Ich hingegen denke, dass meine Eltern es nicht besser zu machen wussten. Sie waren „einfache Menschen“, kamen als Analphabeten nach Deutschland. Hier wollten sie schnell Geld verdienen, um bald in die Heimat zurückzukehren und dort mit uns ein gutes Leben zu führen. Das war ja der Plan vieler Gastarbeiterfamilien. Was mich ärgerlich und traurig zugleich macht, ist etwas Anderes: dass meine Eltern von ihrem schwer verdienten Geld und all dem Ersparten selbst auch nicht viel hatten.

Warum nicht?

Weil das Geld für Geschenke an Familie, Verwandte und Freunde in der Türkei ausgegeben wurde, weil sie zu gutmütig waren und an Verwandte immerzu Geld geschickt haben. Letztlich haben sich all die Entbehrungen nicht gelohnt und das, was sie meinten, für uns getan zu haben, ist uns Kindern nicht zugutegekommen. Meine Brüder und ich sind sehr kurz gekommen.

Sprechen Sie mit Ihren Eltern über die Familiengeschichte?

Mit meinem Vater habe ich nicht sprechen können, als junger Mensch habe ich es mich nicht getraut. Ich hatte viel zu sehr Respekt vor ihm. Als ich dann so weit war, war es nicht mehr möglich; mein Vater starb 2009. Meine Mutter und ich können inzwischen miteinander reden – über die Vergangenheit, über Fehler, die gemacht wurden, über die Lebenslüge der ersten Generation.

Türkische Gastarbeiterfamilie 1984 in Berlin-Kreuzberg
Türkische Gastarbeiterfamilie 1984 in Berlin-Kreuzberg © Steffi Atze

Was meinen Sie mit Lebenslüge?

Das Aufschieben des großzügigen und guten Lebens in die Zeit nach der baldigen Rückkehr in die Heimat. Diesen ersehnten Zeitpunkt hat es für die wenigsten Gastarbeiterfamilien gegeben. Ich weiß aus meiner täglichen Arbeit und auch von mir selbst: Die zweite Generation kann mit den Eltern nicht darüber reden, wie belastend es war, nicht nur finanziellen Entbehrungen ausgesetzt, sondern auch ganz auf sich gestellt zu sein. Das gilt, wie für die meisten Kinder der türkischen Gastarbeiter, auch für mich. Alles, was ich geschafft habe, habe ich ohne jegliche Unterstützung meiner Eltern geschafft. Sie konnten mir gar nicht zur Seite stehen, weil sie keine Ahnung von dem System in Deutschland hatten, überfordert waren und – das muss ich leider auch sagen – sich aufs Geldverdienen fokussiert hatten.

Wäre sonst Ihr beruflicher Werdegang geradliniger gewesen?

Wahrscheinlich. Ich ging ja trotz der Gymnasialempfehlung in die Hauptschule, weil diese Schule näher an unserer Wohnung lag und meine Eltern zudem der Ansicht waren, ich sollte eine Berufsausbildung machen. Also wurde ich Industriemechaniker. Ein türkischstämmiger Kollege hat mir auf der Arbeit den Kopf gewaschen; er warf mir vor, dass ich die Chancen, die ich in Deutschland hätte, nicht nutzte und nicht mehr aus mir machte.

Das wollten Sie nicht auf sich sitzen lassen …

Ja. Ich habe parallel zu meiner Arbeit an der Abendschule das Abitur gemacht und danach Sozialwissenschaften studiert, dabei meinen Schwerpunkt auf Sozialpsychologie gelegt.

Seit 2019 leiten Sie das Gesundheitszentrum für Migrantinnen und Migranten, das es in Köln seit 1995 gibt. Diese Einrichtung gilt bundesweit als einmalig. Was macht sie einmalig und wer ist Ihre Klientel?

Zu uns kommen vor allem Menschen türkischer und russischer Herkunft, aber auch viele andere Migranten. Wir bieten gesundheitliche Beratung und tiefergehende Gespräche an, hauptsächlich sind wir mit Krisenintervention befasst, auch weil es nicht genügend herkunftssprachige Therapeuten gibt. Die Menschen mit Migrationshintergrund – sowohl erste, zweite als auch dritte Generation – haben psychische Probleme, die migrationsbedingt sind. Viele aus der ersten Generation leiden an Depressionen, die aus der zweiten und dritten Generation haben Wut angestaut, wissen aber oft nicht, woher sie kommt. In den Gesprächen geht es immer wieder auch um die Frage nach Schuld und Schuldigen.

Apropos Schuld: In den gesellschaftspolitischen Debatten sind zunehmend Stimmen aus der dritten Einwanderergeneration zu hören. Sie kritisieren Alteingesessene wegen mangelnder Anerkennung und sehen die Verantwortung für Fehlentwicklungen vor allem in der deutschen Politik.

Ich sehe das so: Die Kinder und Enkel der Gastarbeitergeneration haben ein feines Gespür dafür, wann man sie aufgrund ihrer Herkunft ablehnt und abweist; aus eigener Erfahrung weiß ich jedoch, dass nicht für alle wahrgenommenen Missstände und Abweisungen die deutsche Gesellschaft verantwortlich gemacht werden kann. Manches lässt sich auch auf mangelnde Erziehungskompetenz der Eltern und auf dysfunktionale Familienverhältnisse zurückführen.

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